Matthias Baumann teilt einen Traum mit vielen Bergsteigern: einmal am höchsten Punkt der Erde, auf dem Mount Everest zu stehen. Der Unfallchirurg und Verbandsarzt des Bund Deutscher Radfahrer versuchte bereits zweimal sich diesen Traum zu erfüllen. Der erfahrene Expeditionsarzt musste jedoch beide Male, ohne das Ziel zu erreichen, den Rückweg antreten. Im Interview mit der SportSirene erzählt er von seinen Erlebnissen am höchsten Berg der Welt und weshalb es bisher noch keinen dritten Anlauf gab.
Wie kam es dazu, dass Sie sich 2011 auf Ihre erste Mount-Everest-Expedition wagten?
Ich war häufiger in Nepal und auch schon davor in Tibet, beim Cho Oyu, das ist der sechsthöchste Berg der Erde. Das war 2009. Da kamen wir zum Gipfel und da siehst du den Everest, nur 25 Kilometer entfernt. Da war mir klar, dass der Kindheitstraum doch noch Wirklichkeit werden könnte und dass ich da drüben auf dem Gipfel stehen kann. Dann kam zwei oder drei Jahre später das Angebot von einer Schweizer Expedition. Aber vor dem Everest hat man natürlich Respekt. Deswegen war ich schon ein bisschen angespannt, da so viele negative und gefährliche Schilderungen in den Medien stehen.
Wie viel Mut hat es gebraucht dieser Expedition zuzustimmen?
Ich habe natürlich an die Familie gedacht, was passiert, wenn ich da umkommen würde. Da hatte ich schon Unsicherheit. Aber ich war mir immer sicher, dass mir nichts passiert, weil ich die Höhenmedizin sehr gut kenne. Also ich weiß genau, wie der Körper reagiert. Ich gehe da keine Experimente ein. Am Berg kann immer etwas passieren, selbst am kleinen Hügel im Allgäu, das ist klar. Bergsteigen ist gefährlicher als das normale Leben. Aber die Leidenschaft war so groß, dass ich dann nicht gezögert habe, das zu tun.
Welche Erfahrungen hatten Sie vor Ihrer ersten Everest-Expedition und wie haben Sie sich darauf vorbereitet?
Ich habe das bewusst aufgebaut. Ich hatte acht Jahre zuvor zwar schon einmal ein Angebot. Damals habe ich aber gesagt, ich mache das nicht. 2003 war mein höchster Gipfel 6000 Meter in den Anden und ich wollte nicht danach direkt zum höchsten Berg der Erde gehen. Ich habe gesagt, ich mache 6000, 7000, 8000 und dann den Everest und habe mich darauf gut vorbereitet. Ich war körperlich fit, ich hatte genügend höhenmedizinische Erfahrungen und Höhenbergsteigen gemacht.
Ihre erste Expedition endete dann sehr enttäuschend für Sie.
Ja, das war schon brutal. Ich habe davor noch dran gedacht, beim Tauchen kontrolliert ja jeder seine Sauerstoffflasche selbst. Aber ich habe den Expeditionsleiter aus der Schweiz gefragt, wie das mit den Flaschen läuft und er sagte mir, das machen alles die Sherpas. Darauf habe ich vertraut. Das war vielleicht ein bisschen dumm von mir. Aber bei den meisten geht es ja gut. Bei mir war es wirklich Pech. Der Sherpa hat verschlafen, dann hat man ihn wecken müssen, dadurch kam er in Hektik und hat eine leere Sauerstoffflasche gegriffen. Da oben bist du auch nicht mehr ganz bei Sinnen und er hat halt einen Fehler gemacht. Ich war nicht sauer auf ihn. Aber er sagte dann zu mir: „No problem, you come next year“. Aber er weiß nicht, dass es 50.000 Dollar kostet und dass du dafür erstmal den Chef überreden musst, acht Wochen freizubekommen. Letztendlich war ich traurig, dass ich nicht oben war, aber irgendwie trotzdem dankbar, dass ich es erleben durfte.
Dann kam Ihre zweite Expedition. Was hat Sie dazu bewogen es nochmal zu versuchen?
Ja, ich bin halt so ein Typ, der Sachen zu Ende bringen will. Ich bin nicht jemand, der einfach aufgibt. Es ist schon immer ein Kindheitstraum von mir gewesen, seit ich als Zehnjähriger die Bücher von Reinhold Messner gelesen habe. Da muss man die Frage nach dem Warum eigentlich nicht stellen. Irgendetwas zündet es in dir als Kind oder als Jugendlicher und dann ist die Leidenschaft da. 2014 kam wieder ein Angebot als Expeditionsarzt. Dann habe ich wieder überlegt, erneut um eine Freistellung in der Klinik gekämpft und dann habe ich zugesagt, diesmal ging die Expedition über die Nepalseite.
Was war bei dieser Expedition anders? Mussten Sie dieses Mal noch mehr Mut aufbringen?
Ich hatte Respekt vor diesem Khumbueisfall. Der ist als gefährlich bekannt. Da gibt es fast jedes Jahr Tote. Und es war mir klar, dass ich diesmal meine Flaschen zu mir in mein Zelt nehme und sie bezeichne. Das habe ich dann auch so gemacht. Aber es kam gar nicht dazu, dass ich die Flaschen gebraucht habe. Es ist etwas anderes passiert.
Als Sie 2014 ihren zweiten Anlauf wagten, geschah eines der wohl größten Unglücke in der Geschichte des Mount Everest. Wie haben Sie damals diese Situation erlebt?
Es war 6.30 Uhr morgens, ein lautes Geräusch. Ich mache mein Zelt auf und ich sehe diesen riesigen Hängegletscher, der runterfällt, in den Eisfall rein und durch die Druckwelle eine zwei Kilometer lange Lawine auslöst. Da war mir klar, dass jetzt was passiert ist, da die Expeditionen morgens schon los gehen, wenn es noch gefroren ist.
Wie war Ihre Reaktion darauf, was haben Sie getan?
Ich bin aufgestanden und habe alle geweckt. Dann habe ich zum Expeditionsleiter gesagt, geh du hoch mit den Sherpas und sucht nach Verletzten und ich schaue hier nach Ärzten. So haben wir es dann gemacht. Ich habe ein paar Ärzte gefunden und ein kleines Medizinzelt gab es auch, aber das war eher für Höhenkrankheiten ausgelegt, also nicht für so eine Katastrophe. Da habe ich schnell gemerkt, dass ich der Arzt mit der meisten Erfahrung bin. Deswegen habe ich dann die vier Ärzte, die ich gefunden habe, koordiniert. Die 40 Verletzten kamen irgendwann bei uns an. 13 Tote auch, die haben wir aber erst am Abend runtergeflogen. Drei Personen hat man nicht mehr gefunden. Die 40 Verletzten haben wir zunächst nach Verletzungsschweregrad eingeteilt. Da habe ich nur funktioniert wie ein Roboter. Ich habe nur einen Patient nach dem anderen abgearbeitet und am Ende konnten wir alle versorgen. Alle Verletzten haben überlebt. Und am Abend habe ich erst realisiert, was da passiert ist. Das war das größte Unglück, das im Everest und in den hohen Bergen jemals passiert ist.
Wie hat sich dadurch Ihre Sicht auf weitere Expeditionen verändert?
Ja, es macht schon was mit dir. Man überlegt, warum tue ich das? Und warum der Höchste? Und warum eine Gefahr eingehen? Ich war eigentlich nie der Freund von Bergen mit objektiven Gefahren, zum Beispiel Steine und Eisschlag. Solche Sachen sind wie Russischroulette, die kannst du nicht beurteilen und die hast du selber nicht im Griff. Ich mag lieber Berge, bei denen alles von mir abhängt. Deswegen habe ich damals die Tibet-Route gewählt. Also wenn ich nochmal gehe, gehe ich auch wieder von der Tibet-Seite. Ich hatte schon oft danach die Möglichkeit, aber es hat nicht zum beruflichen und familiären Leben gepasst.
Und seit diesem Vorfall 2014 engagieren Sie sich in Nepal.
Ich habe viel von der Welt gesehen und die Sherpas sind Menschen, die mich ganz besonders beeindruckt haben. Von ihrer Freundlichkeit und Herzlichkeit her. Gemeinsam am Berg unterwegs zu sein, macht auch etwas mit dir. Aber ich habe noch etwas erlebt, das relativ wenig in den Medien steht. 2008 war ich in Lukla an diesem Bergflughafen. Wir waren zu zweit und das Flugzeug, mit dem wir abfliegen wollten, ist beim Landen in einen Felsen geprallt. Ich habe das gesehen, renne da runter und versuche den Menschen zu helfen. Es sind alle, darunter viele Deutsche, gestorben bis auf den Piloten. Das war ein Horrorbild von brennenden Menschen und zufällig stand ich da und habe dann geschaut, dass der Pilot nach Kathmandu transportiert wird. Er hat am Ende auch überlebt. Dann kam 2014 und ich bin wieder da, als das nächste große Unglück in Nepal passiert. Das war Zufall, Schicksal oder was auch immer. Und ich habe dann gesagt, ich gehe nicht nach Hause, ich besuche die Familie der verstorbenen Sherpas. Das habe ich dann auch gemacht, ich hatte 5000 Euro noch in der Tasche und habe jeder Familie 300 Euro für die Kinder gegeben.
Aber dabei blieb es nicht.
Nein, als ich zurückkam, wurde ich direkt vom SWR eingeladen, habe ein Interview gegeben und dann war es wie eine Lawine. Ich war überall im Fernsehen. Bis ich dann zu Frank Elstners Fernsehsendung „Menschen der Woche“ in Baden-Baden eingeladen wurde. Da konnte ich viele Spenden sammeln und wir haben entschieden, dass wir den 40 Kindern der verstorbenen Sherpas die Schule bezahlen wollen. Also bin ich im März 2015 wieder nach Nepal. Als wir zurückgekommen sind, gab es drei Wochen später ein Erdbeben in Nepal. Und es war wie ein Automatismus, weil ich das Land so mag und ich schon zwei Unglücke dort erlebt habe: Ich habe ein Ticket gekauft und ich war am nächsten Tag dort. Man hat dort wirklich Unfallchirurgen gebraucht. Ich war zwei Wochen da, habe operiert und bin auch in die Dörfer. Das war der Horror in den Dörfern, überall Leichen vergraben, da riechst du auch den Verwesungsgeruch. Also so was Schlimmes habe ich noch nie gesehen. All diese Ereignisse haben dann dazu geführt, dass wir wieder Spenden gesammelt und einen Verein gegründet haben.
Mit Ihrem Verein Sherpa Nepalhilfe sammeln Sie nicht nur Spenden, sondern stoßen unterschiedliche Projekte an, um dem Land zu helfen. Was konnten Sie schon erreichen?
Wir haben mit dem Geld dem Land beim Wiederaufbau geholfen. Wir haben Schulen und auch ein Gemeindehaus aufgebaut. Dann kam die Idee, ein Krankenhaus wie Edmund Hillary zu bauen. Denn als junger Medizinstudent war ich bereits einmal in Nepal und habe einen Sherpa besucht, den ich zuvor in Chamonix bei einer Bergführerausbildung kennenlernen durfte. Als er mir damals das Krankenhaus von Hillary zeigte, dachte ich schon, es wäre so schön, wenn du auch so etwas machen könntest. Im Hinterkopf hatte ich den Gedanken über 28 Jahre. Als dann das Geld da war, dachte ich mir, jetzt kannst du es machen. Wir haben dann einen Platz gefunden. Aber das Schönste an der Geschichte ist, dass der Sohn des Sherpas, den ich in Chamonix kennengelernt habe, nun unser erster Arzt im Krankenhaus ist. Da schließt sich irgendwie ein Kreis. Mein Vater sagt auch immer, das ist mehr wert als der Mount Everest.
Wie groß ist trotzdem noch Ihr Wunsch sich den Traum vom Gipfel zu erfüllen?
Der Traum und auch die Leidenschaft sind nicht weg, aber der Blickwinkel ist definitiv ein anderer. Ich denke auch mehr über diese Massen an Menschen nach, die mittlerweile jedes Jahr dort sind. Muss das sein? Warum ist das so? Ich hätte schon Konzepte, wie Nepal das ändern könnte, aber die wollen das nicht ändern. Damit wird Geld verdient, das ist ein richtiger Wirtschaftssektor. Also der Mount Everest an sich ist ein egoistisches Ziel. Aber gerade mit diesem Kreis, der sich da schließt, finde ich es eindrucksvoll und wahrscheinlich musste das alles irgendwie so kommen. Nichtsdestotrotz ist das in mir und ich würde gerne nochmal da hoch.
Das Spendenkonto finden Sie unter:
www.sherpanepalhilfe.de
Das Interview wurde geführt von Benedikt Heber
- „Ich bin nicht jemand, der einfach aufgibt“ - 13. November 2023