OSG Luxationsfraktur, Typ Weber A, Abriss Tibialis Posterior, Abriss Deltaband. Diese Diagnose bekommt Adrian Müller von den Ärzten mitgeteilt. Begeisterung sieht anders aus.
Noch wenige Stunden zuvor war der 23-jährige Verteidiger der TSG Balingen mit seinen Mannschaftskameraden gegen Waldhof Mannheim auf dem Feld gestanden, ohne eine Vorahnung, was ihn in der 24. Minute erwarten würde. Er musste vom Fußballplatz getragen werden. Im Kampf um den Ball hatte sich Müller verletzt, schwerer als anfangs gedacht. Die Diagnose: Sprunggelenksfraktur mit Sehnenriss und Innenbandabriss. Die bange Frage: wie lange dauert die Genesung und vor allem wie geht es für ihn weiter? Im Sport sowie im Alltag.
Nach dem Vorfall im März 2019 fällt Müller acht Monate aus, mittlerweile trainiert er wieder mit der Mannschaft und hat auch die ersten Spiele absolviert. Nach seinem Comeback versucht er gefährliche Situationen zu meiden und zieht eher einmal mehr zurück, wenn er nicht abschätzen kann, welche Belastung auf sein Sprunggelenk wirkt. „Es wird aber mit jeder Trainingseinheit besser“, sagt Müller. Dass er nun so konstant trainieren kann, ist nicht selbstverständlich, da die ersten Prognosen der Ärzte nicht gut aussahen. Positiv ist, dass „laut den Prognosen jeder kleine Schritt ein Erfolgserlebnis ist und mich zusätzlich motiviert“. Doch wie ist es überhaupt möglich, nach acht Monaten nahezu an die Form vor der Verletzung anzuknüpfen, als wäre nichts passiert?
Laut dem Deutschen Verband für Physiotherapie (ZVK) ereignen sich jährlich etwa 1,5 Millionen Sportunfälle. Verteidiger Müller gehört mit seiner Fraktur dem größten Anteil an: 72% aller Fälle beziehen sich auf die Beine, meistens auf Knie- und Sprunggelenke. Der Großteil der Verletzten kann, wie Müller, dem Sport wieder nachgehen. Neben Medizinern haben Sportler vor allem Physiotherapeuten und im physiotherapeutischen Bereich Arbeitenden ihre Genesung zu verdanken. Täglich bestimmen Verletzungen deren Alltag, ohne sie gäbe es kein Comeback oder „come back stronger“. Zwei von ihnen sind Jochen Gehring und Stefan Vogler. Gehring weist über 20 Jahre Berufserfahrung im Bereich Physiotherapie und Osteopathie auf. Er besitzt eine Lizenz des DOSB, kann somit als Physio für Olympische Spiele oder Nationalmannschaften nominiert werden und betreute im November 2019 die Paralympische Skinationalmannschaft. Zudem verletzte er sich selbst mehrere Male beim Sport und fühlt daher jedes Mal mit seinen Patienten mit. Zu den Patienten und Gästen seiner Praxen, darunter KörperBau in Balingen, gehören unter anderem Ex-Bayern-Torhüter Oliver Kahn und Mike Antoniades, Athletikcoach bei Arsenal und Chelsea London. Gehrings 22-köpfiges Team behandelt täglich Sportverletzungen. Ein Teammitglied ist Stefan Vogler, selbst lange aktiv beim Fußballregionalligist TSG Balingen und Athletiktrainer. Der Sportwissenschaftler ist im KörperBau auf der Trainingsfläche tätig, mitunter für die Bewegungsanalyse der Patienten und eine 1:1-Betreuung zuständig.
Laut Statistik der ZVK sind die Beine äußerst häufig von Schädigungen betroffen, was Gehring und Vogler bestätigen. Neben Kreuzbandrissen, Kniebeschwerden und Sprunggelenksfrakturen gehören auch Rücken- und Schulterprobleme zum Alltag. Im Sport geht es meist um muskuläre Probleme wie Zerrungen und Muskelfaserrisse. Dabei gehen Sportler bewusst ein Risiko ein. Durch eine Steigerung des Athletiktrainings entwickelt sich der Mannschaftssport weiter und führt laut Gehring dadurch zu mehr Körperkontakt. Die Folgen daraus sind mehr Kontaktverletzungen. Allgemein ist Sport schneller und athletischer geworden, damit werden die athletischen Ansprüche an die Protagonisten immer größer. „Wenn man ein Fußballspiel aus den 70er Jahren anschaut, denkt man, sie könnten nebenher eine SMS schreiben, überspitzt gesagt“, so Gehring.
Durch die stetig wachsenden Anforderungen an den menschlichen Körper erhöht sich auch das Risiko für Verletzungen. Durch bessere und strengere Sicherheitsmaßnahmen schrumpfen zwar glücklicherweise die Todesfälle in Sportarten wie Motor- oder Skisport, schwere Sportverletzungen häufen sich jedoch. Umso wichtiger wird deren Therapie und die Betreuung der Sportler, damit diese nachhaltig gesund bleiben. Am Beispiel einer Operation erklärt Gehring, was passiert, wenn die geschädigte Struktur zu lange ruhiggestellt wird. Dann kann es zu Verklebungen und Unbeweglichkeit kommen. Um die Beweglichkeit und den Übergang in den Alltag wiederherzustellen, ist Fachkenntnis grundlegend. Ein reines Krafttraining im Fitnessstudio erzielt nicht den gewünschten Effekt. Ein wichtiger Faktor ist hierbei das Alter des Patienten. „Je jünger, desto schneller der Fortschritt und desto weniger Gedanken machen sich die Patienten, ob es wieder gut wird“, so Vogler. Einzig und allein Muskelaufbau hilft also nicht viel.
Bei Adrian Müller bestand das Training nach der Verletzung größtenteils aus Stabilisationsübungen des Sprunggelenks, z.B. einbeinigen Sprüngen, Standwaage und Fußgelenkslauf. Viel Wert wurde auf intensives Warmmachen gelegt, was Vogler grundsätzlich für sinnvoll hält. Nach einem Sportunfall sollte der Einstieg gut vorbereitet werden, langsame Steigerung ist angesagt. Dabei gilt es immer wieder Neues auszutesten, zu schauen, auf welchem Stand sich der Sportler gerade befindet, um ihn bis an seine Grenzen zu fordern. Dadurch müssen die Übungen wieder angepasst werden. Man sollte es jedoch nicht ausreizen, denn „kann der Patient noch keine sauberen Sprünge durchführen, dann ist es noch nicht sinnvoll Joggen zu gehen“, erklärt Vogler. Dass nicht nur ein Ansatz zum Ziel führt, beweist auch die Kombination aus verschiedenen Behandlungsbereichen. Vogler ist der Meinung, die Physiotherapie hängt eng mit der Sportwissenschaft zusammen, Gehring setzt deshalb in seinem Team auf Vielseitigkeit – von Ergotherapie über Krankengymnastik bis zu Osteopathie. Ergänzung ist hier das Stichwort, da jeder Bereich wie ein Puzzleteil ist, wie die korrekte Bewegungsausführung, die durch gezieltes Lockern der Muskeln und Faszienbehandlung effektiver wird.
Adrian Müller trainiert nun nach der Fraktur gezielter das Sprunggelenk, um nach und nach auf 100 Prozent Leistung zu kommen. Gleichzeitig trainiert er prophylaktisch, um einer weiteren Verletzung vorzubeugen. Man könnte sagen nach Verletzung A ist vor Verletzung B. Der Präventivcharakter spielt im Sport eine immer größere Rolle. „Wenn jemand gut trainiert und das Gewebe gut durchblutet wird, ist die Verletzungsanfälligkeit geringer. Wenn man nicht sieht, dass ein Sportler unrund läuft, kann es sein, dass er sich im nächsten Spiel verletzt“, beschreibt Gehring.
Deshalb arbeiten Physios heute auch sehr eng mit Athletiktrainern zusammen. Von dieser 1:1-Betreuung profitiert auch Müller, ihm gibt dies Motivation und auch die Sicherheit, möglichst ohne Verschleiß leistungssteigernd zu trainieren. Der Regionalligaspieler führt Stabilisationsübungen für Rumpf, Knie- und Sprunggelenk durch und aktiviert die hintere Kette, sprich die hintere Oberschenkel- und Gesäßmuskulatur, mit Therabändern. Besonders effizient sind sogenannte „Movement preps“, dynamische Mobilisations- und Dehnübungen, die an den Bewegungsablauf einer Sportart angelehnt sind. Auch Vogler erachtet die Durchführung als wichtig und sinnvoll, da „gezieltes funktionelles Krafttraining eben das trainiert, was man in der Sportart vorfindet. Immer so nah wie möglich an der tatsächlichen Belastung zu trainieren, macht für mich am meisten Sinn und hat sich bisher bewährt.“ Gehring merkt an, dass „ein Motorradsportler andere Anforderungen als ein Fußballer hat“, weshalb eindimensionale Zirkel in Fitnessstudios nicht zielführend sind. Auch hier gilt, die Übungen an den Sportler und seinen Leistungsstand anzupassen.
Natürlich kommt es vor, dass eine Behandlungsmethode nicht greift. Vogler beobachtet die Methode über ein paar Wochen, bringt sie nicht die erhoffte Besserung, werden die Übungen gewechselt. Wert legt er dabei auch auf die Rückmeldung des Patienten. Vogler fügt hinzu, dass es Zeit braucht, bis eine Behandlung anschlägt, Geduld ist hier gefragt, um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Nach Gehring hat es auch Vorteile, verletzt sich ein Sportler oder sollte die Therapie nicht helfen. Der Physio erklärt: „Verletzungen bedeuten immer auch Förderung der Medizin. Wir müssen in Büchern blättern, Konzepte überdenken, erweitern, ergänzen und Behandlungsmöglichkeiten ausprobieren und entwickeln, wodurch immer neue Methoden entstehen.“ Die Methoden werden immer moderner und besser, was früher nach einer Operation häufig in den Gips gepackt wurde, wird heute schneller belastet, so Vogler. Er befürwortet in Bezug auf Beinverletzungen den Sportler möglichst schnell zum Laufen zu bringen, dabei Krücken oder Schienen abzulegen, damit keine Fehlhaltung oder falschen Gangmuster entstehen. So können die Athleten ihrem Sport schon nach kürzester Zeit nachgehen. Der Kernpunkt liegt für den Sportwissenschaftler in der Mischung aus altbewährten und neuen Methoden. Vorsicht gilt bei Trendmethoden, die oft stark angepriesen werden und viel versprechen. Bewirbt eine Methode oder ein Produkt unrealistische Fortschritte in kürzester Zeit, kann man mit wenig Effizienz und viel Profitgier rechnen.
Adrian Müller trainiert fortan konsequent weiter mit den passenden Methoden, um sein Leistungsniveau von vor der Verletzung zu erreichen. Infrage gestellt hat er während den acht Monaten den Fußball nie, er trainierte oft deutlich mehr und sieht es als Chance, an Dingen zu arbeiten, die im Training sonst zu kurz gekommen sind.
Luis Kremer
- Wenn Verletzungen den Alltag bestimmen - 27. März 2020