„Das letzte Tor entscheidet!“. Erklingt dieser Satz auf dem Bolzplatz oder im Schulsport, sind die Kinder sofort Feuer und Flamme. Das vielleicht zuvor noch träge Spiel nimmt sofort an Fahrt auf und Langeweile weicht Begeisterung. Eine Begeisterung, die meist nur so lange anhält, bis das bis dahin hoffnungslos unterlegene Team das Siegtor erzielt. „Das ist unfair“, heißt es dann. Eine Regel, die also schon im Amateur- und Kinderbereich für Empörung sorgt, ist seit einiger Zeit Realität in der Leichtathletik.
„Final 3“ heißt das Experiment des internationalen Leichtathletikverbands, das der schwächelnden Traditionssportart wieder zu altem Glanz verhelfen soll. Die Verantwortlichen des Weltverbandes „World Athletics“ überraschten Anfang 2020 mit einer neuen Idee, die zunächst nur bei den Diamond-League-Wettkämpfen zur Anwendung kommt. Bei Weit- und Dreisprung sowie bei den Würfen sollen nur die bislang führenden drei Athleten einen sechsten Versuch erhalten, der alleine über das Gesamtergebnis entscheidet. Einzig die im letzten Durchgang erzielten Weiten entscheiden über die Plätze eins bis drei. Es ist demnach also möglich, dass ein Athlet den Wettkampf gewinnt, der nicht die Tagesbestweite erzielt hat. Der sportliche Grundsatz „Der Beste soll gewinnen“ wird dabei mit Füßen getreten. Diese Innovation soll, in der sonst so objektiven, auf Bestweiten und Bestzeiten ausgelegten Sportart, für mehr Spannung sorgen. Dass ein Athlet, der vor dem letzten Versuch noch aussichtslos auf Rang drei liegt, trotzdem gewinnen kann, mag den ein oder anderen Zuschauer sicher begeistern. Auch dass es nun eine Ausrede mehr gibt, nur die letzten drei Versuche eines Wettkampfes zu zeigen und einen leichtathletischen Wettkampf zu einem 90-minutigen TV-Ereignis zu choreografieren, mag hinter den Reformgedanken stecken. Dass mit dieser Regel jedoch anderen Sportlern, die nach fünf Durchgängen weiter hinten platziert sind, die Chance auf das Podest oder gar den Sieg genommen wird, schien der so auf Modernisierung pochende Verband bisher nicht zu bedenken.
Dass die Leichtathletik auch ohne sinnlose Innovationen zu Spannung fähig ist, zeigte nicht zuletzt das olympische Finale im Weitsprung der Frauen in Tokio. Ein Finale, das an Spannung kaum zu überbieten war und bei dem sich die Kommentatoren im deutschen Fernsehen vor Begeisterung fast überschlagen haben, nachdem sich die deutsche Springerin Malaika Mihambo im letzten Versuch noch knapp die Goldmedaille sichern konnte. Bester Beweis also, dass die Leichtathletik es nicht nötig hat, mit sportlichen Grundsätzen und alten Traditionen zu brechen.
Diese Erkenntnis scheint bei den World-Athletics-Entscheidungsträgern angekommen zu sein. In den Diamond-League-Regularien für die kommende Saison ist die „Final-3- Regel“ nicht mehr in ihrem ursprünglichen Format enthalten. Wer sich nun aber Hoffnungen macht, dass der Verband die Regel einfach abschafft, wird bitter enttäuscht. Stattdessen übertrifft sich der Weltverband einmal mehr durch eine Regelmodifizierung, die an Sinnlosigkeit kaum zu toppen ist. Denn nach wie vor werden nach fünf Durchgängen nur die besten drei Athleten einen letzten Versuch erhalten. In der Endabrechnung zählen nun aber die Weiten aus allen vorangegangenen Versuchen und nicht mehr nur die Leistung des letzten Sprungs. Dass der Verband damit seine eigene Rechtfertigung der Regel, nämlich Spannung bis zum Schluss zu erhalten, außer Kraft setzt, ist nur ein weiteres Indiz für die Skurrilität des Formats. Am Ende des Tages bekommen die drei Erstplatzierten lediglich einen Versuch mehr und man nimmt den weiter hinten platzierten Athleten nach wie vor die Chance auf das Podest. Gut, dass das Problem erkannt wurde. Schade, dass die Lösung keine gute ist.
Nele Neumann
- Fluch der Innovation - 13. Februar 2022