Die Kinder stehen aufgereiht an einer hölzernen Ballettstange und lauschen gespannt den Anweisungen der Lehrerin. Mit Timing und Eleganz führen sie die harmonischen Bewegungen der Basis-Schritte aus, die sie bereits erlernt haben. Man hört, wie die Ballettschläppchen über den Boden gleiten, wenn auch manchmal nicht ganz rhythmisch zur Musik. Sobald es darum geht, das Bein ausgestreckt und knapp über dem Boden zu halten, ist den Kindern die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. Sie schwitzen, ihre Körper zittern und die Muskeln brennen. Wild durcheinander springend und ohne Hemmungen stellen sie daraufhin Figuren wie Trolle oder Cowgirls dar, um den Körper für die Belastungen der nächsten 45 Minuten wieder aufzulockern. Die Elemente des Balletts sowie die Kräftigungs- und Dehnungsübungen werden in der Ballettschule in Esslingen mit spielerischen Elementen vermittelt, um die Kinder nicht zu langweilen und sie von anstrengenden Bewegungen abzulenken.
Ballett ist ein von vielen Menschen belächelter Sport, der von diesen oftmals als nicht sehr anstrengend bezeichnet wird. Allerdings steckt sehr viel mehr dahinter als die Tanzbewegungen, die man bei einer Aufführung sieht. Wie viele Menschen den Sport ausüben, ist nicht bekannt. Laut des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik gibt es etwa 1400 professionelle Balletttänzer*innen und einige Millionen Hobbytänzer*innen. Dass es nur Mädchen und Frauen tun, stimmt nicht. Aber auch in Esslingen ist der Anteil der Jungen sehr gering.
Louise Day, 52 Jahre alt, ist seit 25 Jahren Ballettlehrerin an der Ballettschule in Esslingen. Sie sagt: „Wir haben sechs Jungen oder Männer, die in unserer Ballettschule tanzen. Im Verhältnis dazu sind hier circa 300 Mädchen oder Frauen angemeldet“. Es gebe Unterschiede, die bei der Ausbildung beachtet werden müssen: „Die meisten Mädchen sind von Natur aus etwas beweglicher als die Jungs, da muss man das Training schon bei den jüngeren Kindern anpassen“, erklärt Day. In der Altersklasse der 8- bis 10-Jährigen werde zudem nicht nur Ballett getanzt, es gehe vielmehr um eine vielseitige Grundausbildung, die eine Verbesserung der Beweglichkeit durch Dehnen, die Kräftigung der gesamten Muskulatur und letztendlich auch die Bewegungsabläufe der ersten Tanzschritte beinhalte. Sie sagt auch, dass „es schon bei den Kindern wichtig ist, die richtige Körperhaltung zu vermitteln, da es beim Ballett oft um kleine Nuancen geht, die auf den Zuschauer eine riesige Wirkung haben können!“
Das alles ist wichtig auf dem Weg ein*e Balletttänzer*in zu werden. Doch nicht jede Person hat die richtigen Voraussetzungen für eine Karriere. Neben der richtigen Körperhaltung und einem guten Körpergefühl brauchen die Profitänzer*innen auch eine hohe Beweglichkeit, ein gut ausgeprägtes Gedächtnis für die komplizierten Schrittfolgen, eine ausreichende Kondition für die langen Tänze und ein gutes Rhythmusgefühl. Es gibt aber auch Grundlagen, die die Tänzer*innen nicht lernen können: Etwa lange, schlanke Gliedmaßen, eine natürliche Auswärtsdrehung in den Hüftgelenken oder eine lange und starke Muskulatur. Aber längst wollen nicht alle Profis werden, sondern üben den Sport gerne als Hobby aus.

Die Jugendlichen in Esslingen bewegen sich fortgeschrittener als die Kinder. Sie haben mehr Schrittfolgen erlernt und diese ausgebaut. Nach der von Frau Day ironisch gemeinten „Lieblingsübung“ der Schüler*innen, die daraus besteht, dass das Bein gestreckt nach vorne und nach hinten bis in die Waagrechte durch geschwungen wird, während das andere Bein als Standbein dient, hört man die erschöpften Seufzer der Tänzer*innen. Die 15-Jährige Charlotte nennt die Übung eine „Mischung aus Technik und Ausdauer, bei der vor allem die Ausdrehung der Hüfte sehr anstrengend ist“. Doch sind nicht nur die anstrengenden Kräftigungsübungen, sondern auch die Ballettbewegungen, wie die komplizierten Kombinationen aus Port-de-Bras, bei dem es um die gut koordinierte Bewegung der Arme und des Oberkörpers geht, dem Piqué, das Drehungen und Schritte kombiniert, sowie verschiedenen Pirouetten, ein großer Bestandteil des Ballettunterrichts für diese Altersgruppe. Dabei ist es auffällig, wie elegant, fast vorsichtig diese Bewegungen wirken. Die Koordination von Armen, Beinen und Drehungen passt jedoch perfekt zusammen und durch die Eleganz der Ausführung sind diese Bewegungen für die Zuschauer*innen sehr eindrucksvoll. Alles läuft unter höchster Spannung ab und obwohl es so leichtfüßig aussieht, hört man nach den Übungen immer wieder die Ausrufe der Anstrengung.
Ballett kann dabei helfen, die Körperhaltung im Alltag zu verbessern. Durch das viele Dehnen der Muskeln wird die allgemeine Beweglichkeit des Körpers gefördert. Dies kann, in Kombination mit der Stärkung der Muskulatur vor allem im Bereich des Rumpfes, für eine Verbesserung der Körperhaltung ohne abgekipptes Becken oder krummen Rücken sorgen. Dadurch verbessert sich auch das Wohlbefinden, da weniger Schmerzen in diesen Bereichen hervorgerufen werden. Somit kann Ballett auch die körperliche Gesundheit des Menschen verbessern. Der Sport bringt allerdings auch Gefahren mit sich. Vor allem im Profibereich, in dem die Tänzer*innen den Körper jeden Tag belasten, kommt es oft zu Ermüdungsbrüchen. Außerdem kann auch das schmerzhafte Tanzen mit Spitzenschuhen auf Dauer zu Verletzungen führen.
In der Ballettschule in Esslingen, die vor allem auf den Spaß und nicht auf die Leistung ausgerichtet ist, kommt dies jedoch nur selten vor. Laut Day ist die Verbesserung der Körperhaltung bei den Kindern zu erkennen: „Da wir viele der Kinder über Jahre mindestens einmal die Woche sehen, können wir auch abschätzen, wie sehr sich die Haltung der Kinder verbessert“. Allerdings, sagt Day, sei das Resultat „harter Arbeit“. Diese harte Arbeit wird in vielen professionellen Ballettschulen bis an die Grenze des Möglichen getrieben. Dabei wird oft kritisiert, dass den Kindern durch das Training körperlich geschadet werden kann. Außerdem können die Strapazen, die das tägliche Training in einer professionellen Ballettschule mit sich bringt, auch die Psyche der Kinder negativ beeinflussen. In den meisten Ballettschulen werden die Kinder zwar auch gefordert, allerdings in einem angemessenen Rahmen. Auch die Jugendlichen selbst sehen das so: „Natürlich ist das Training nicht immer einfach und oft anstrengend, aber am Ende macht man das, weil es Spaß macht und man Fortschritte erkennt“, sagt Charlotte.
Die Korrekturen von Day sind minimal, und doch bewirkt die leicht veränderte Körperhaltung etwas. Die komplizierten Bewegungen werden ausgeführt, während die Tänzer*innen in den Übungen alles aus sich herausholen. Wenn es aber um das tatsächliche Vorführen auf der Bühne geht, sieht man ihnen das kaum an. So scheint Ballett am Ende oft leichtfüßig und simpel zu sein, doch der Kraftaufwand und die Konzentration, die dahintersteckt, werden oft unterschätzt. Es bleibt die Kunst, die physische Beanspruchung nicht zu zeigen, sondern so zu wirken, als sei es fast einfach und ohne großen Kraftaufwand möglich, die komplizierten Bewegungen auszuführen, um für den Zuschauer eine Vorführung von Leichtigkeit und Eleganz zu schaffen.
- Im Spagat zwischen Anstrengung und Leichtigkeit - 15. April 2022