Der Herr platziert seine rechte Hand knapp unterhalb des linken Schulterblattes der Dame, so dass sein Ellenbogen bis zu den Fingerspitzen eine leicht abfallende gerade Linie bildet. Sie legt ihren linken Arm auf seinen rechten – ein Ausschnitt der richtigen Körperhaltung in Standardtänzen.
SportSirene-Redakteurin Miriam Betz sprach mit Bernd Roßnagel, Präsident des Schwarz-Weiss-Club Pforzheim und Vizepräsident des Tanzsportverbands Baden-Württemberg, über seine langjährige Tätigkeit als internationaler Wertungsrichter und über Haltung im Turniertanz.
Welche Rolle spielt die Haltung im Tanzsport und natürlich vor allem im Turniertanz?
Für mich ist die Haltung ein ganz entscheidender Punkt im Tanzen. Wir müssen jetzt aber unterscheiden, ob wir über die Haltung sprechen, die wir in der Umgangssprache als Tanzhaltung empfinden. Diese heißt im Englischen hold. Wenn man die Haltung im Körper, also unsere Körperhaltung beobachtet, dann geht es um posture. Die Körperhaltung ist in jedem Sport, aber gerade bei uns im Tanzsport ein ganz wesentlicher Punkt. Alle Bewegungen, die wir im Tanzen sehen, sprich die die Tänzer auf der Tanzfläche fabrizieren, entstehen durch ein kontrolliertes Zusammenspiel einzelner Körperpartien. Wir sprechen im Tanz von der Frontalebene, der Sagittalebene und der Horizontalebene. In der Grundhaltung ist es so, dass das Kopfzentrum, also praktisch die Ohren, dann der Punkt zwischen den beiden Schultern und das Beckenzentrum auf der Sagittalebene übereinanderstehen sollten. Dies ist eine Grundposition, die wir als Wertungsrichter sehen wollen. Wenn alles dann natürlich in Bewegung ist, verändert sich das Ganze wieder. Für mich persönlich ist die Haltung etwas ganz Wichtiges. Wenn ein Tanzpaar auf die Fläche geht, kann ich schon sehen, ob die Haltung da ist oder nicht. Und ich denke jeder geübte Wertungsrichter sieht es auch.
Wie unterscheidet sich die Haltung in den Standardtänzen von der in den Lateintänzen?
Es gibt einen ganz wichtigen Unterschied zwischen Latein und Standard. Im Standard sind die Körper in ständigem Kontakt, im Latein ist es nicht so. Die Grundhaltung muss jeweils sichtbar sein. Aber es ist auch so, dass es selbst innerhalb der Disziplinen Unterschiede gibt und bei bestimmten Körperbewegungen Unterschiede in dieser Haltung zu sehen sind – und zu sehen sein müssen. Es wird zwischen der statischen Haltung und der dynamischen Haltung unterschieden. Wenn man zum Beispiel die Schwungtänze im Standard im Gegensatz zum Kompressionstanz Tango betrachtet, wird sehr schnell deutlich, dass die Haltung unterschiedlich ist. Einfach formuliert kann man sagen, dass dieses Auseinanderstehen der Körper in den Lateintänzen, also das Getrenntsein von Herr und Dame, schon einen grundsätzlichen Unterschied in der Haltung darstellt.
Wie können Tänzerinnen und Tänzer Haltung trainieren? Geschieht dies nur in der Tanzhalle oder sind auch Übungen im Kraft- und Ausdauerbereich notwendig?
Die Tänzerinnen und Tänzer machen auf jeden Fall Übungen im Kraft- und Ausdauerbereich. Es ist sehr wichtig, dass spezielle Übungen gemacht werden. Früher hat man darauf noch keinen Wert gelegt, das Training bezog sich rein auf das Tanzen. Mittlerweile muss der Körper interdisziplinär für die Bewegung geschult werden. Es gibt kein einseitiges Training mehr. Es muss die Muskulatur trainiert werden und es muss auch nach dem Muskelaufbau der Muskel wieder gedehnt werden.
Das Bewertungssystem im Turniertanz erfolgt nach Punkten nach der Beendigung eines Tanzes. Wie wird dabei die Haltung bewertet? Gibt es objektive Kriterien zur Bewertung von Haltung?
Natürlich gibt es Kriterien, zum Beispiel: Wo steht der Kopf? Wo stehen die Schultern? Wie ist das Zusammenspiel der einzelnen Körperpartien? Jeder Wertungsrichter bekommt die Kriterien auch immer bei den Schulungen vermittelt. Man muss aber unterscheiden, ob man international oder national wertet, denn diese Wertungssysteme sind verschieden.
Inwiefern unterscheiden sich die nationalen von den internationalen Wertungssystemen?
Im nationalen Bereich ist es so, dass das komplette Turnier relativ bewertet wird. Das heißt, man bewertet die einzelnen Tänzer im Verhältnis zu den anderen Tänzern. Man vergleicht und entscheidet dann, ob einem dieses oder jenes Paar besser gefällt. Dann gibt man entweder ein Kreuz oder, wenn es sich um ein Finale handelt, diesem Paar eine bessere Wertung. In Deutschland haben wir hier eine klare Reihenfolge der Kriterien. Das heißt, wir haben die Wertungskriterien Musik, Balance, Bewegung und Charakteristik. In dieser Reihenfolge sollen wir auch bewerten. Die Körperhaltung wird entweder in der statischen oder in der dynamischen Balance bewertet. Im internationalen Bereich, bei den großen und wichtigen Turnieren wird immer mit dem Judging-System 3.0 gewertet. Das bedeutet, dass wir absolut werten. Es gibt ein Bewertungsspektrum von 1 bis 10. Außerdem gibt es Wertungsgebiete. Ein Wertungsgebiet heißt Technical Qualities. In diesem ist die Haltung beinhaltet. Posture steht dort an erster Stelle. An Nummer zwei steht dann übrigens hold. Das bedeutet, dass zuerst die einzelne Körperhaltung bewertet wird und anschließend, wie das Paar zusammensteht. Absolut gibt man als Wertungsrichter dem Paar zum Beispiel eine 8,5, eine 8,75 oder eine 10. Besonders ist, dass ich mehreren Paaren die 8 oder die 10 geben kann, je nachdem, ob dieses Kriterium sehr gut oder weniger gut erfüllt ist.
Die Bewertungskriterien sollen für Objektivität sorgen. Manchmal hat es aber den Anschein, dass Wertungsrichter bei internationalen Turnieren Paaren mancher Nationen gegenüber positiver gestimmt sind als anderen. Was sagen Sie dazu?
Grundsätzlich sind wir dazu verpflichtet, neutral und mit bestem Wissen und Gewissen zu werten. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich stehe oft am Rand und bin mir teilweise auch unsicher. Daher finde ich persönlich das absolute Werten wesentlich besser. Ich komme mit dem auch ganz gut zurecht und habe meinen Bewertungsspielraum. Mein Ausbilder hat mir vermittelt, dass mein ganzes Wissen wie eine Folie ist. Diese Folie halte ich vor mich, schaue durch und sehe, ob das Paar, das ich zu bewerten habe, dieser Folie entspricht. Dementsprechend muss ich es auch bewerten. Wenn ich am Rand stehe und mir teilweise unsicher bin, dann muss ich mir immer wieder klar machen, dass ich eine Bewertung abgebe, mit der ich auch nach dem Turnier noch in den Spiegel schauen kann. Ich weiß jedes Mal, dass alle Paare, die auf der Fläche sind, ihr Bestes geben und jedes Paar, das auf der Fläche ist, auch ein Anrecht auf eine gerechte Bewertung hat. Das probiere ich zu tun und ich denke, meine Wertungsrichterkolleginnen und -kollegen tun das auch. Das hoffe ich zumindest!
Kann man über das Tanzen auch seine Alltagshaltung verbessern?
In jedem Fall. Das Tanzen hat mehrere gesundheitliche Vorteile. Durch die Kombinationsvielfalt im Tanzen wird auch das Gehirn aktiviert und in Anspruch genommen und es ist auch für das Lösen von Denksportaufgabe sehr förderlich. Tanzen ist hervorragend für die Alltagshaltung, weil ich meinen Körper so trainiere, dass ich in Balance stehe. Und das hilft mir auf jeden Fall auch im Alltag. Und es ist gut für die Wirbelsäule.
Im Fußball gibt es den Videobeweis. Kann man sich so etwas im Tanzen auch vorstellen? Oder zählt wirklich nur der Moment der Betrachtung?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das im Tanzen Einzug hält. Das hat einen ganz einfachen Grund. Den Videobeweis im Fußball finde ich persönlich super. Ich denke aber auch, dass er deswegen notwendig ist, weil ein Schiedsrichter zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidung fällt und dann hängt alles andere, was danach kommt, davon ab. Im Tanzen haben wir den Vorteil, dass wir zwischen neun und dreizehn Wertungen haben. Wenn ein Wertungsrichter etwas Falsches sieht, dann ist es immer noch so, dass acht bis zehn andere Wertungsrichter danebenstehen, die das korrigieren können. Daher sind die Folgen einer Wertung nicht so gravierend. Eine Sache, die ich gar nicht so schlecht gefunden habe, die aber leider wieder abgeschafft wurde, war eine Nachbesprechung bei internationalen Turnieren und Meisterschaften. Dort wurden Wertungsrichter hinsichtlich ihrer Entscheidungen befragt und dabei auch Videos angesehen. Man darf aber beim Tanzen eines nicht vergessen und das finde ich einen ganz wichtigen Punkt. Wir Wertungsrichter müssen dreidimensional betrachten und entscheiden. Wir sehen auf dem Bildschirm aber nicht dreidimensional. Deswegen können wir das, was wir normalerweise zu bewerten haben, an einem Bildschirm nicht bewerten. Dass man während der Corona-Pandemie so etwas gemacht hat, diente dazu, den Sport aufrecht zu erhalten. Aber das darf man auf gar keinen Fall als die Zukunft sehen, denn meiner Meinung nach hilft uns das nicht weiter.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten für mögliche Veränderungen im Tanzsport, wie würde dieser lauten?
Ich habe einen Wunsch, der nicht erfüllbar ist. Für unseren Tanzsport wäre es gut, wenn wir hauptberufliche Wertungsrichter hätten. Dann muss man aber davon leben können. Da Tanzen eine Randsportart ist und dieses Geld nicht zur Verfügung steht, um hauptberufliche Wertungsrichter zu bezahlen, funktioniert das nicht. Ich glaube, dann wären Vorlieben oder politischen Entscheidungen so nicht gegeben. Aber das ist ein Wunsch, der sich nie erfüllen wird.
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- „Wie stehe ich eigentlich richtig?“ - 18. Juli 2022