Immer mehr Menschen bezahlen viel Geld, um ihr Leben von der Zugkraft eines Seils abhängig zu machen. Den einen fordert es dabei weniger, den anderen mehr Mut ab, sich in die Tiefe zu stürzen
So kam es, dass ich Monate später mit einigen anderen Top-Kanuten in voller Kajak-Montur im Valle Verzasca in der prallen Sonne auf einer alten Genueser Brücke saß. Es war Drehpause, wir warteten auf unseren nächsten Take und einer der Jungs erzählt so nebenbei: Habt ihr das gehört? Im Osten von England sind irgendwelche Typen vom Oxford Dangerous Sports Club … mit einem ausgedienten Flugzeugträger-Fangseil irgendwo von der Brücke gesprungen“, erzählte Jochen Schweizer auf seinem YouTube-Kanal, als er an eineDrehpause des Films „Feuer, Eis und Dynamit“ zurückdenkt.
Eine solche Erzählung klingt für die meisten Menschen zunächst nach einer lebensbedrohlichen Beschäftigung, nicht aber für den Extremsportler Jochen Schweizer in seinen jungen Jahren. Ihn inspirierte es, selbst eine solchen Sprung zu wagen. Kurze Zeit später stand er auf einer 220 Meter hohen Staumauer und stellte den ersten Weltrekord im Bungee-Springen auf. Willy Bogner schlug ihm damals vor, diesen Sprung zu unternehmen und das Ereignis in seinem Film „Feuer, Eis und Dynamit“ zu zeigen. Bogner gehörte in den 1960er-Jahren zu den besten deutschen Skifahrern. Nach seiner Karriere als Skifahrer bliebsein Name fester Bestandteil der Öffentlichkeit. Neben der Rolle als Filmemacher, stieg er 1972 hauptberuflich in das Unternehmen seines Vaters ein und übernahm fünf Jahre später das Unternehmen Bogner Sport GmbH.
Der damals 30-jährige Jochen Schweizer ahnte nicht, welche Folgen dieser Sprung in Willy Bogners Film für ihn haben würde. „Nach dem Film klingelten die Leute bei mir zu Hauseund wollten unbedingt Bungee springen. Ich nannte einen Abwehrpreis: 500 Mark. Da holte der Typ seinen Geldbeutel raus und drückte mir 500 Mark in die Hand. Wir fuhren nachts raus auf den Sylvensteinspeicher, da gibt es eine schöne Brücke, und ich kannte einen auf dem Polizeirevier, der mir sagte, wann die Streife durchkommt. Wir haben dann in der ersten Nacht zehn Leute von der Brücke springen lassen“, erzählte Jochen Schweizer in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.
Das war der Startschuss für eine Branche, die den Mut der Menschen als Grundlage verwendet. Als Antwort auf die hohe Nachfrage gründete Schweizer eine Event- und Kommunikationsagentur in Unterhaching. Daraufhin eröffnete der junge Kanute 1989 in Oberschleißheim die erste und bis heute älteste stationäre Bungee-Anlage in Europa. Bei vielen Leuten kam der Trend gut an, sodass es nicht bei einer Anlage blieb. Im Laufe der 1990er-Jahre führte Jochen Schweizer zusätzlich noch das „House-Running“ ein. Mit einer am Körper fixierten Kletterausrüstung, schickte er die Menschen auf einen Spaziergang der Superlative. Mit Blick voraus konnten sie senkrecht Gebäudewände herunterlaufen. Durch diesen Zusatz gelang es ihm, ein festes Standbein aufzubauen. Zentrale Adressen waren damals der Fernsehturm in Hamburg, die Bungee-Anlage in Oberschleißheim sowie mehrere Hotels in München, die für das „House-Running“ geeignet waren.
Die Menschen waren begeistert von seinen Angeboten und fühlten sich angezogen von den aufregenden Erlebnissen aus dem Hause Schweizer. Es entstand eine Sog-Wirkung in der Branche. Nicht nur Privatpersonen interessierten sich für diese Art von Produkt, auch Unternehmen wurden darauf aufmerksam und buchten für ihre Firmenevents sogenannte „Toolboxen“. Diese beinhalteten die erwähnten Erlebnisse und waren damals die ersten Produkte des Unternehmens. Schweizer gelang es über die Jahre hinweg, zahlreichen Menschen ein Erlebnis zu bieten, das sie aus ihrer Komfortzone heraus bewegt. Mit dieser Art von Unternehmung machte er die Menschen auf den Mut, der in ihnen steckt, aufmerksam.
Bis ins Jahr 2003 blieb Jochen Schweizer die Top-Adresse, wenn es um das Buchen von Erlebnissen geht. Im selben Jahr jedoch tauchte österreichische Konkurrenz auf. Georg Schmiedl gründete damals mit seinen zwei Kollegen Erwin Bräuer und Stefan Harder ein vergleichbares Unternehmen namens „Jollydays“. Die beiden Österreicher sprangen auf den Zug auf und erkannten früh, wie viel Potential im Vertrieb von Erlebnissen steckt. Anders als Schweizer, der selbst actionreiche Erlebnisse für seine Kunden kreiert, fungiert „Jollydays“ lediglich als Vermittlungsplattform für Erlebnisse. Es fand ein Umdenken statt – weg von den „Toolboxen“ hin zum Gutschein-Geschäft. Für Schweizer stellte dies kein Problem dar, wie er selbst oft sagt: „Es geht letztlich darum, einmal mehr aufzustehen als man hingefallen ist.“ Unternehmerisch löste der damals 47-Jährige die Situation, indem er sich mit dem Unternehmen Mydays zusammenschloss. Die Jochen Schweizer Mydays Holding GmbH war entstanden. Der Beteiligungsgesellschaft war es gelungen, sich als die Top-Adresse für Erlebnisgeschenke zu etablieren.
Neben dem unternehmerischen Erfolg erfuhr Jochen Schweizer auch immer wieder negative Schlagzeilen. Über die Jahre hinweg kam es an seinen Bungee-Anlagen in Bayern und Dortmund zu drei Unfällen, eine Person verlor dabei ihr Leben. An der Olympia-Regattastrecke in Oberschleißheim stand damals die Unglücks-Bungee-Anlage Nummer eins. Im Jahr 2002 erwischte einer der Mitarbeiter das falsche Seil, was dazu führte, dass ein 22-Jähriger mit dem Gesicht voran aufs Wasser aufschlug, er erlitt damals schwere Verletzungen. Acht Jahre später kam es auf der gleichen Anlage zu Verständnisproblemen zwischen Kranführer und Bodenpersonal, sodass zwei Jugendliche aus zwei Metern Höhe auf den Boden stürzten. 2003 ist es in Dortmund zum schwersten Unfall in Schweizers Vitagekommen. Die Horrorvorstellung eines jeden Bungee-Betreibers trat ein, das Seil eines Springers riss beim Sprung in die Tiefe. Der Springer verlor dabei sein Leben. Trotz Ermittlung wegen fahrlässiger Tötung wurde Schweizer vor Gericht von sämtlichen Anklagen freigesprochen. Seine Anlagen waren stets TÜV-geprüft, außerdem war es ihm sehr wichtig, die Hintergründe der Unglücksfälle zu verstehen. Zwar litt das Image seines Unternehmens darunter, die Nachfrage nach Abenteuer kehrte aber immer wieder zurück. Das Gutschein-Geschäft boomt bis heute. Schweizer ist jedoch mittlerweile nicht mehr das Zugpferd dieses Abenteuergeschäfts.
Der heute 66-Jährige hat es sich zur Aufgabe gemacht, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Mit seinen mehr als 40 Jahren Erfahrung im Bereich Extremsport und Unternehmertum nimmt er mittlerweile die Rolle eines Speakers ein und füllt große Hallen. Sein Produkt ist heute sein Wissen, das er über seine Website in Form von Retreats und Masterclasses zur Verfügung stellt.
Arian Latifi
- Zwischen Abenteuer und Angst – Mut als Geschäftsmodell - 4. Juli 2023