Seit Jahrtausenden erfreuen sich Menschen daran, Sport zu treiben und anderen Menschen dabei zuzusehen. Schon in der römischen Antike waren sportliche Betätigungen Bereicherungen des täglichen Lebens. Doch was für eine Macht hatte der Sport über das Volk? Und welche Macht hatte das Volk über den Sport?
Die Haut von Marcus nimmt allmählich einen rötlichen Ton aufgrund der hochstehenden Mittagssonne an. Ein Schweißtropfen läuft vom Nacken den Rücken hinunter, nicht der einzige. An seinen Mundwinkeln kleben getrocknete Essensreste, die er nicht bemerkt oder vergessen hat. Der Schweiß rinnt in Strömen, was auch mit all den anderen Menschen zusammenhängt, die sich Schulter an Schulter zusammengedrängt am großen Spektakel erfreuen. Doch die Hitze nimmt hier niemand wahr. Die Herzen der Menschen schlagen wie eines, Spannung liegt in der Luft. „Gleich knallt‘s!“, schreit jemand. Marcus hält den Atem an, kann kaum hinsehen. Doch um Haaresbreite wird die Kollision vermieden. Die Menge grölt, denn es zählt nur der Sieg. Wut, Freude, Ärger, fanatischer Jubel. Je länger sich die Veranstaltung hinzieht, umso stärker branden unterschiedliche Emotionen in der kollektiven Masse auf.
Man könnte meinen, es handele sich um einen Tag im Fußballstadion oder an der Formel 1-Rennstrecke. Aber dies ist eine Szene, die so oder so ähnlich vor etwa 1800 Jahren zur Hoch-Zeit der antiken Spiele im Circus Maximus in Rom beim Wagenrennen stattgefunden haben könnte. In diesem riesigen Bau, der hauptsächlich als Austragungsstätte für Pferde- und Wagenrennen diente, fanden mehr als 255.000 Menschen Platz. Das entspricht etwa einem Viertel der damaligen Einwohnerzahl Roms. Das andere imposante Bauwerk, das das Bild der Stadt prägte, war das bis heute erhaltene Colosseum, in dem sportliche Wettbewerbe und Gladiatorenkämpfe stattfanden. Wenn ein solches ludus stattfand, wurde der Tag zum Feiertag und es durfte nicht gearbeitet werden. Um diese Zeit waren mehr als die Hälfte der Tage im Jahr als Feiertag ausgeschrieben und an rund 60 Tagen davon fanden Wagenrennen statt, die für gewöhnlich von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang andauerten. Die römische Bevölkerung konnte demnach sehr viel Zeit bei unterschiedlichen spectacula verbringen.
Das römische Reich hatte seinen Anfang im achten Jahrhundert vor Christus, der Legende nach im Jahr 753 v. Chr. von Romulus und Remus gegründet. Zerfallen ist es nach der Teilung 375 n. Chr. in West- und Oströmisches Reich endgültig am Anfang des siebten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. In dieser Zeitspanne von mehr als 1.300 Jahren gab es in dem Weltreich unterschiedliche politische, künstlerische und sportliche Strömungen. Von den Etruskern, die vor den Römern das Gebiet von Rom bis Norditalien besetzten, übernahmen sie einige Bräuche, darunter verschiedene „Spiele“, die zu Ehren der Staatsgötter ausgetragen wurden. Diese Formen von Sport fanden zwar vereinzeltes Zuschauerinteresse, da aber in den frühen Jahren des römischen Reichs körperliche und geistige Erziehung als Privatangelegenheit angesehen wurde, gab es keine staatliche Förderung. Das hat sich erst unter Kaiser Augustus geändert, der den sogenannten collegia iuvenum, eine Art Verein für junge Menschen einrichtete, in dem sowohl religiöse Kulte als auch körperliche Übungen hauptsächlich militärischer Natur gelehrt wurden. Durch das Volk gefordert, wurden unter Kaiser Nero viele griechische Sportarten in den Kanon aufgenommen.
In der Kaiserzeit zwischen 27 vor und 284 nach Christus war „Sport“ das wichtigste Thema im Staat. Allerdings lag der Schwerpunkt für die meisten nicht in der eigenen Ausübung. Die Bürger genossen das Spektakel vielmehr von der Empore aus. Hauptattraktionen waren ludi circenses, die Wagen- und Pferderennen. Fast genauso beliebt waren die blutigen Kämpfe Mensch gegen Mensch, die muneri, Gladiatorenkämpfe, die häufig mit dem Tod eines Kämpfers endeten. In den venationes wurden große Tiere wie Elefanten, Tiger und Bären entweder gegen andere Tiere oder gegen Menschen gehetzt. Die „Athleten“ dieses Spektakels waren für gewöhnlich Kriegsgefangene oder Sklaven. Auch bei den Gladiatorenkämpfen wurden zunächst Menschen gezwungen, gegeneinander anzutreten. Doch durch die immer größere Beliebtheit im Volk gab es mehr und mehr Freiwillige, die sehr viel Geld gewinnen konnten – sofern sie überlebten. Des Weiteren gab es Wettbewerbe wie Wettlaufen, Ringen und Boxen, Seiltanzen und zum Teil wurden sogar ganze Seeschlachten nachgestellt, für die die Schaustätten entweder geflutet oder eigens Seen ausgegraben wurden. Das Colosseum verfügte über eine raffinierte unterirdische Kanalanlage, mit der es innerhalb kürzester Zeit mit ausreichend Wasser versetzt werden konnte.
Die zahlreichen Gladiatoren waren für das Kaiserreich zunächst ein großer innenpolitischer Risikofaktor. Sie waren militärisch gedrillt und nicht begeistert vom System, das sie zum Teil dazu zwang sich gegenseitig umzubringen. Nach dem von Spartacus geführten Gladiatoren- und Sklavenaufstand, der wieder niedergeschlagen wurde, verstärkten die Machthaber des Staates die Kontrollen über Gladiatorenschulen. Der Kaiser hatte nun die direkte Befugnis über die Schaukämpfer, und seine Macht ist durch den damit verbundenen Respekt bei Widersachern und in der Bevölkerung gestiegen. Oft kam es vor, dass Gladiatoren in die Leibwache des Imperators berufen wurden. Diese Motivation führte (rückwirkend) dazu, dass die nun ohnehin unter stärkerer Aufsicht stehenden Gladiatoren nicht mehr aufständisch wurden.
Dem römischen Volk erging es insgesamt gut. Neben öffentlichen Thermen waren Essens- und Geldspenden vom Staat und die Spiele Garanten für eine zufriedene Bevölkerung. Der römische Dichter Juvenal prägte den Ausdruck panem et circenses, der noch heute geläufige Begriff Brot und Spiele. Er verurteilte das römische Volk, sich von den Vergnügungen und Geschenken blenden zu lassen, und sich von der Politik komplett zurückzuziehen. Ein Staat, der einstmals durch seine mächtigen Bürger repräsentiert worden war, wurde mehr und mehr von einer Handvoll Männer unter Führung des Kaisers regiert. Um diese Machtgrundlage zu festigen, wurden Gebäude wie der Circus Maximus oder das Colosseum erbaut. Erst im dritten Jahrhundert nach Christus haben die Spiele an Macht und Fürsprache verloren. Grund war die Erstarkung der christlichen Religion, die die polytheistische Götterverehrung in Rom sukzessive ablöste. Viele der urtümlichen Christen wurden in den ersten beiden Jahrhunderten nach Christus in den Arenen zum Kämpfen und Sterben gezwungen. Auch das Gebot der Barmherzigkeit widersprach den brutalen Schaukämpfen. Ein Umdenken machte sich im Volk breit und auch andere Spiele wie die Wagenrennen wurden als Wahrzeichen der früheren römischen Dekadenz gemieden – bis es schließlich keine mehr gab.
Mehr als tausend Jahre vergingen bis der Sport durch Pierre de Coubertin in Form der modernen Olympischen Spiele wieder zu einem massentauglichen Zuschauerereignis wurde. Auch wenn die Beweggründe des heutigen von Milliarden von Menschen rezipierten Sports andere sind als die zur römischen Kaiserzeit, haben die modernen Spiele eine vergleichbare Wirkung auf die Zuschauer. Großereignisse wie Fußball-Weltmeisterschaften und Olympische Spiele üben einen solchen Glanz aus, dass oft negative Begleiterscheinungen, wie katastrophale Bedingungen beim Bau von Stadien oder die Umsiedlung ganzer Dörfer überschattet werden.
1800 Jahre nach dem Wagenrennen: Markus sitzt auf einem roten Plastik-Klappstuhl. Sein Gesicht wird von einer Schirmmütze vor der hochstehenden Mittagssonne geschützt. Der Schweiß läuft dennoch in Strömen. Schulter an Schulter sitzen hier die Anhänger des Spektakels trotz Hitze mit dicken, farbigen Schals nebeneinander. Ketchup klebt an seinen Mundwinkeln. „Schieß doch!“, ruft einer. 1:0 und alle springen jubelnd aus ihren Sitzen.
Volker Zehnle
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