Welche Rolle spielt Zeit beim Skitouren gehen im Frühjahr?
Es ist 6.45 Uhr und mein Wecker klingelt. Normalerweise ist früh aufstehen nicht meine Stärke, doch heute bin ich direkt hellwach, denn ich gehe endlich wieder Skifahren. Neben meinem Bett steht der Rucksack griffbereit, den ich schon gestern Abend in gespannter Erwartung auf den heutigen Tag gepackt habe. Beim Frühstück blicke ich in die müden Gesichter meiner Freunde, die bereits am Tisch sitzen.
Nach dem Frühstück überprüfe ich noch einmal meine Notfallausrüstung. Diese besteht aus einem Lawinenverschüttetensuchgerät zum Orten von verschütten Personen, einer 2,60 Meter langen Faltsonde zum Ertasten der georteten Person und einer Lawinenschaufel zum Ausgraben. All dies findet Platz in einem speziellen Rucksack, an dessen Seiten sich in Sekundenbruchteilen zwei Luftkissen ausfalten, sobald an einem Griff gezogen wird. Die beiden Airbags sorgen für Auftrieb in einer Lawine und sollen im äußersten Notfall einer Verschüttung vorbeugen. Oder dafür sorgen, dass der Verschüttete unter zu große Schneemassen gerät. Denn bei knapp 60 Prozent aller Lawinentoten ist Ersticken die Todesursache. Laut dem österreichischen Kuratorium für alpine Sicherheit starben in den letzten sechs Wintern allein in Österreich 143 Menschen bei Lawinenunfällen.
Solche Zahlen geben einem zu denken. Die Bergung eines Verschütteten aus der Lawine ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Wird der Verschüttete innerhalb der ersten zwölf Minuten nach der Verschüttung geborgen, hat er eine etwa 80-prozentige Überlebenschance. Nach 30 Minuten sinkt diese Chance auf weniger als 30 Prozent. Bis die organisierte Rettung am Unfallort eintrifft, vergehen in der Regel 30 bis 45 Minuten. Es ist also wichtig, dass die richtige Ausrüstung vorhanden ist um Verschüttete bergen zu können. Doch selbst die beste Ausrüstung ist wertlos, wenn man nicht damit umgehen kann. Deswegen sollte regelmäßig die Suche von Verschütteten trainiert werden und jeder sich vor einer Tour intensiv mit der Lawinengefahr Beschäftigen um das Risiko einer Verschüttung so gering wie möglich zu halten.
Um 7.30 Uhr wird der Lawinenlagebericht für heute herausgegeben. Der Bericht enthält eine Beurteilung der Lawinengefahr im freien, ungesicherten Gelände, eine Analyse der Schneedecke und einen Alpinwetterbericht für die Region. Er wird von den Experten der zuständigen Lawinenkommission veröffentlicht. Die Lawinengefahr wird auf einer Skala von eins bis fünf eingeordnet, wobei eins für geringe und fünf für sehr große Gefahr steht. Die Beachtung der Lawinengefahr ist für Wintersportler, die sich im freien, ungesicherten Gelände bewegen extrem wichtig.
Der Bericht für heute, den ich auf meinem Handy aufgerufen habe, ist das Musterbeispiel für einen Frühlingstag: „Vormittags ist mit günstigen Verhältnissen mit einer geringen bis mäßigen Lawinengefahr zu rechnen, im Tagesverlauf mit einem Gefahrenanstieg und vermehrtem Risiko für Nassschneelawinen.“ Die Schneedecke ist größtenteils gut gesetzt, das heißt, dass der Schnee durch die geringen Niederschläge und hohen Temperaturen in der letzten Woche eine gute Verbindung zum Untergrund eingehen konnte. Durch den vorausgesagten Sonnenschein und die hohen Temperaturen wird die Schneedecke im Laufe des Tages zunehmend durchfeuchtet. Mit zunehmender Durchfeuchtung wird der Schnee schwerer, mit steigendem Gewicht nimmt die Stabilität der Schneedecke ab und somit steigt die Lawinengefahr während des Tagesverlaufs erheblich an.
Doch im Frühjahr reicht es nicht einfach nur aus, früh am Berg zu sein. Um den richtigen Schnee zu erwischen, braucht es ein präzises Timing, sowohl in der Tourenplanung als auch bei der Durchführung. Wenn die tagsüber angetaute Schneedecke nachts gefriert, verdichtet sich die Schneeoberfläche zu einer harten Kruste. Im Laufe des Tages wird diese Kruste von der Sonne zunehmend aufgeweicht und solange sie das Gewicht eines Wintersportlers noch trägt, hat dieser beste Bedingungen bei der Abfahrt. Bekommt der Schnee hingegen zu viel Sonne ab, steigt nicht nur die Lawinengefahr, sondern aus dem erhofften federleichten Firn wird ein schwerer „Knochenbrecher“-Schneematsch.
Es ist inzwischen acht Uhr. Wir schnappen unsere Ausrüstung, ziehen die Felle auf die Ski und machen uns an den Aufstieg. Die Sonne brennt uns während des gesamten zweistündigen Aufstiegs auf den Kopf. Mir kommen immer wieder Zweifel, ob wir nicht doch zu spät losgegangen sind und der Sonne zu viel Zeit gelassen haben den Schnee aufzuweichen.
Um zehn Uhr stehen wir endlich – komplett verschwitzt – über dem Hang, auf dem wir abfahren wollen. Die Schneeoberfläche rechts und links unserer Aufstiegsspur ist weich wie Butter, gleichzeitig brechen wir beim Laufen nicht durch die erste Kruste in der Schneedecke. Vorfreude steigt in mir auf und auch die anderen können sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Alle wissen, dass uns eine traumhafte Abfahrt bevorsteht. Wir machen uns hastig für die Abfahrt fertig. Bevor wir losfahren, nehmen wir uns jedoch noch die Zeit, den Ausblick und unsere Umgebung zu genießen.
Die ersten Schwünge sind die Bestätigung dafür, dass wir genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Der Firn ist perfekt, alles scheint, so zu funktionieren, wie wir es uns vorgestellt haben.
Nach der Hälfte unserer Abfahrt wird der Schnee jedoch immer schwerer und wir müssen unsere Schwünge viel bedachter ausfahren. Es fühlt sich an, als würde der schwere Schnee mit den Ski machen, was er gerade will. Ich beginne darüber nachzudenken, was passiert, wenn jetzt der Hang abrutschen würde. Mir läuft es kalt den Rücken herunter. Sind wir zu spät los? Haben wir uns wirklich so sehr in der Zeit vertan? Auf dem benachbarten Hang ist die Schneedecke schon an mehreren Stellen aufgerissen. Ich fühle mich etwas unbehaglich und bestreite die letzten hundert Höhenmetern unserer Abfahrt deutlich vorsichtiger.
Aufatmen am Fuße der Abfahrt. Alle sind unbeschadet und erleichtert, dass nichts passiert ist. Wir drehen uns nochmal um und blicken bergauf. Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass der Schnee dort, wo wir abgefahren sind, schon deutlich von der Sonne aufgeweicht wurde. Auf den umliegenden Hängen, die stärker in Richtung Osten ausgerichtet sind, ist noch ausgeprägter zu sehen, wie die Sonne den Schnee erweicht hat. Diese Hänge lagen am Morgen schon wesentlich früher in der Sonne und so ist der Schnee schon weicher und schwerer als in unserer Abfahrt. Die Exposition des Hanges, also die Himmelsrichtung, in die er ausgerichtet ist, war einer der Gründe, warum wir diesen Hang und diese Abfahrtsspur gewählt haben. Hätten wir dies nicht berücksichtigt, wäre die Abfahrt zur regelrechten Tortur im schweren Schneematsch geworden.
Wir haben also alles richtig gemacht, das Unbehagen war unbegründet. Wären wir allerdings zehn Minuten früher oben gewesen, hätten wir wahrscheinlich auf der ganzen Strecke den perfekten Firn gehabt. Doch genaues Timing ist in den Bergen schwierig. Eigentlich haben wir es wirklich nicht so schlecht erwischt. Zufrieden und müde schieben wir uns entlang eines kleinen Baches in Richtung Hütte zurück. Im Kopf planen wir bereits den nächsten Tag. Dann werde ich den Wecker aber auf 6.30 Uhr stellen.
Asmund Nottekämper
- Eiszeit: Das vierte Drittel - 17. September 2017
- Der frühe Vogel und der Firn - 19. Juni 2017
- Zeitmanagement: Ein Blick hinter die journalistischen Kulissen des Basketballs - 15. Mai 2017