Haltung zeigen im Sport. Fairness gilt als ein Grundbaustein des sportlichen Wettkampfs, der trotzdem immer wieder ins Wanken gerät. Was zeichnet einen fairen Sportler aus und warum neigen gerade Profisportler dazu, auch mal unfair zu handeln? Darüber hat SportSirene-Redakteur Martin Stuber mit Sportpsychologe Hans-Dieter Hermann gesprochen. Er erzählt, welcher Sport aktuell gut ohne Schiedsrichter auskommt und warum Miroslav Klose für ihn das Paradebeispiel eines fairen Sportsmannes ist.
Herr Hermann, würden Sie sich selbst als fairen Sportsmann bezeichnen?
Spontan gesagt: ja. Nach zweimaligem darüber nachdenken glaube ich aber schon, dass ich als Zuschauer von Sportereignissen, bei denen ich in irgendeiner Weise involviert bin, zumindest nicht neutral auf die Geschehnisse schaue. Beispielsweise ist es sicherlich schon vorgekommen, dass ich beim Fußball ein taktisches Foul der von mir favorisierten Mannschaft für richtig erachtet habe, obwohl es objektiv betrachtet nicht fair war.
Was macht einen fairen Sportler in Ihren Augen aus?
Spannende Frage. Ich versuche es in aller Kürze: Das Mindeste für mich ist, sich an die Regeln zu halten und keine Vorteile anzunehmen, die aufgrund des Irrtums entstehen. So hat zum Beispiel Miroslav Klose nicht nur einmal den Schiedsrichter korrigiert – zu Ungunsten der eigenen Mannschaft. Er ist für mich das Paradebeispiel eines fairen Sportlers. Aber zu absoluter Fairness gehört für mich auch ein Gefühl für Sinn und Moral von Regeln. In Führung liegend mit allen Mitteln Zeit zu schinden wäre dafür nochmals ein Beispiel aus dem Fußball.
Sie haben als Sportpsychologe unter anderem mit Skifahrerinnen und -fahrern, Judokas, Fußballspielerinnen und -spielern gearbeitet. Gibt es Unterschiede, was den Fair-Play-Gedanken in den verschiedenen Sportarten angeht? Wenn ja, wie können Sie dies erklären?
Ja sicher! Die Kultur einer Sportart und wie sie historisch gewachsen ist, spielt für den Fair-Play-Gedanken eine große Rolle. Um ein ganz besonderes Beispiel zu nennen: Ultimate Frisbee, eine typische Studentensportart. Hier werden sogar die Weltmeisterschaften ohne Schiedsrichter ausgetragen.
In der Fußball-Bundesliga hat zuletzt Vincenzo Grifo vom SC Freiburg viel Lob bekommen, nachdem er von sich aus dem Schiedsrichter signalisiert hat, dass er nicht gefoult worden sei und es somit keinen Elfmeter geben darf. Warum sind solche Aktionen immer noch die Ausnahme?
Gerade in einer medienwirksamen Sportart wie im Fußball kommen mehrere Faktoren zusammen. Neben Gewinnen und Verlieren geht es auch um Emotionen einer großen Gruppe, also der Fans, es geht um Anerkennung, Prämien und schließlich auch um Arbeitsplätze in Vereinen. Wenn man diese Rahmenbedingungen berücksichtigt, wird klar, dass viel Mut dazu gehört, einer Schiedsrichterentscheidung in zugespitzten Situationen zu widersprechen und dadurch dem eigenen Team einen Vorteil zu nehmen.
In den UEFA-Leitlinien für Kinder- und Jugendfußball heißt es: „Vermitteln Sie Respekt vor dem Gegner und dem Schiedsrichter.“ Wie bringt man Kindern und Jugendlichen diese Werte auf dem Fußballplatz bei?
Da gibt es viele Möglichkeiten. In erster Linie schon einmal durch das eigene Vorbild als Trainer oder Elternteil neben dem Platz. In Deutschland gibt es beispielsweise auch Kinderligen, in denen es dazu gehört, dass die beteiligten Mannschaften ihre Spiele selbst leiten. Es funktioniert. Nur für Notfälle steht dem Spiel noch ein Erwachsener als Obmann zur Seite. Durch diesen Rollen- und Perspektivwechsel entwickeln Kinder ein Gefühl für Regeln und Verantwortung.
Inwieweit ist es dann bedenklich, dass Vorbilder wie Neymar Fairness manchmal nicht ganz so ernst nehmen?
Bedenklich allemal. Aber man sollte es sich als Außenstehender auch nicht allzu leichtmachen, wenn man über das Verhalten von Spielern urteilt. Es gibt im professionellen Mannschaftssport auch schnell den Vorwurf, wenn ein Spieler in entscheidenden Situationen die Regeln nicht bis aufs Letzte ausreizt, dass er für seine Mannschaft, seinen Verein, die Fans und die Mitarbeiter nicht alles gegeben hat. Das kann schon ein Dilemma sein.
Sie waren 2014 als Teampsychologe der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Brasilien dabei. Nach dem Halbfinalerfolg der deutschen Elf gegen Brasilien gab es viel Lob für den Umgang mit den unterlegenen Brasilianern. Sind Themen wie das Auftreten nach einem deutlichen Sieg auch Teil Ihrer Arbeit?
Nein, das sind eher Themen im Jugendbereich, die auch nicht zwingend über die Sportpsychologie vermittelt werden. In Belo Horizonte 2014 war das Verhalten eher Ausdruck echten Mitgefühls und auch des prinzipiellen Respekts. Ich kann das allerdings generell nur für die deutsche Mannschaft sagen: In so einem Turnier will man weiterkommen, aber bestimmt niemand demütigen – weder die gegnerische Mannschaft noch ihr Land. Für die Brasilianer war die Niederlage ein nationales Drama, das konnten sie bereits im Stadion spüren. Schon während des Spiels nach der klaren Führung wurde nur noch defensiv von unseren Spielern gejubelt.
Rückblickend wird von verschiedenen Medien geschrieben, dass Joachim Löw damals in der Halbzeitpause angeordnet habe, die Brasilianer in der 2. Halbzeit nicht vorzuführen. Kann man Spielern Haltung auf dem Platz anordnen oder bedarf es dafür auch eine gewisse Grundeinstellung in der Mannschaft?
Man kann daran appellieren. Aber das ist ein schmaler Grat, denn Spiele können sich auch verblüffend schnell drehen, wenn man mit seinem Engagement und seiner Entschlossenheit nachlässt. Ein Trainer muss deshalb in der Lage sein, die sogenannte Haltung auch in klare Verhaltensregeln und taktische Anweisungen umzusetzen.
Gab es während Ihrer Karriere schon einmal den Moment, dass ein Athlet oder eine Athletin, den bzw. die Sie betreut haben, aufgrund unfairen Handelns verloren hat? Wie geht man als Psychologe mit Sportlerinnen und Sportlern in solchen Situationen um?
Ja, mehrmals. Wie man damit psychologisch umgeht, hat viel damit zu tun, wie bedeutsam die Niederlage ist bzw. zu welchem Zeitpunkt sie stattfindet. Eine Zeit lang darf man trauern und sauer sein. Aber bei genauerem Hinsehen kann man mit etwas Abstand möglicherweise daraus auch etwas lernen, vielleicht sogar als Persönlichkeit reifen. So dass sich die betroffenen Sportler letztlich sagen können: Kein Schaden ohne Nutzen. Das möchte ich aber nicht verallgemeinern.
Stellen Sie sich vor, Sie erzielen anstelle von Diego Maradona 1986 das entscheidende 1:0 im WM-Viertelfinale gegen England mit der Hand. Jubeln Sie über Ihr irregulär erzieltes Tor oder gehen Sie zum Schiedsrichter und beichten ihm Ihr Handspiel?
Ich beichte.