Der Bass der Trommeln bringt die Wände zum Beben. Das Herz rast, die Hände zittern, nur noch wenige Stufen. Sprechchöre im weiten Rund, 80.000 Fans warten auf die Mannschaften. Ein Offizieller gibt das Zeichen, es geht los. Raus aus den Katakomben, rein ins Tollhaus. Der Rasen englischer als die Queen. Blitzlichtgewitter, die Augen versagen. Kurz vor der Nationalhymne Gänsehaut bei über 30 Grad im Schatten. Für viele wird es nur ein Traum bleiben, aber die meisten Brasilianer träumen diesen. Im eigenen Land das Trikot der Nationalmannschaft überzustreifen. 2014, die ganze Welt schaut auf Brasilien, ein Land, das fast vierundzwanzigmal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland. Wenige haben viel, viele haben wenig. Die Kluft zwischen arm und reich ist gewaltig.
27. März 1981, ein Armutsviertel in der Stadt Santo André. Claudemir Jeronimo Barreto erblickt das Licht der Welt. Die alleinerziehende Mutter arbeitet als Reinigungskraft, um ihn und seine zwei Brüder über die Runden zu bringen. Claudemir ist schnell vergessen, weil er sich bei seiner ersten Geburtstagsfeier im wahrsten Sinne des Wortes einen Namen macht. Bei dem Versuch, sich selbst ein Ständchen zu trällern, singt er „Cacaudemir“. Von nun an wird er Cacau genannt.
Den großen Idolen nacheifernd will er Fußballprofi werden. Ein perfektes Grün oder gar ein Stadion sucht man vergebens, gekickt wird auf der Straße. Oft mit knurrendem Magen, das Geld reicht nicht einmal für Lebensmittel. Cacau greift seiner Mutter bereits früh unter die Arme. Der Ärger der einen ist das Glück der anderen. Im Berufsverkehr auf der Nationalstraße Mogi-Bertioga verkauft Cacau Wasser und Erfrischungsgetränke an Autofahrer. Einen festen Arbeitsplatz sucht er vergebens. Der Job als Verkäufer reicht nicht, er muss Steine schleppen als Maurergehilfe. Trotz Rückschlägen verliert er seinen Traum nicht aus den Augen: „Während dieser schwierigen Phase war mein Glaube an Jesus Christus die große Stütze für mich. Ich wusste genau, dass er einen Plan für mein Leben hat. Ich war mir zu dieser Zeit sicher, dass Jesus mein Leben wunderbar führen und mich versorgen wird.“
Er spielt für verschiedene Fußballvereine, der Durchbruch in Brasilien gelingt ihm jedoch nicht. Sein Trainer glaubt an ihn, bittet seinen Vetter Osmar Oliveira, Cacau mit nach Deutschland zu nehmen. Oliveira lebt seit 1981 in Deutschland und geht mit einer Samba-Tanzgruppe auf Tour. Cacau muss überzeugt werden, dann kann er durchstarten. 18 Jahre alt, mit der bunten Truppe im Flieger: „Das stimmt, ich bin mit der Sambatruppe zusammen geflogen, aber getanzt habe ich nicht. Aber klar, ein bisschen Rhythmus habe ich im Blut“, sagt er verschmitzt.
Für Tanzeinlagen ist keine Zeit, er hat nur eins im Kopf: Fußball. Den Grashoppern Zürich reicht das Vorspielen nicht, das Probetraining bei Türk Gücü München hinterlässt jedoch Spuren. Nur noch eine Unterschrift entfernt vom Beginn einer Bilderbuchkarriere. Von nun an wird es brasilianisch in der fünften Liga. Wichtigster Förderer für ihn ist dabei Oliveira, „er sorgte wie ein Vater für mich“. Als Gegenleistung hilft Cacau bei Auftritten der Tanzgruppe. Der Traum von einem besseren Leben und sein Glaube treiben ihn an. Cacau lernt die deutsche Sprache und knüpft erste Kontakte.
Die wichtigen jedoch organisiert erneut Oliveira. Durch seine Vermittlung kommt es zu einem Kontakt zwischen Cacau und der Amateurmannschaft des 1. FC Nürnberg. Bei Türk Gücü München hat er überzeugt und die Chance in Nürnberg lässt er sich nicht entgehen. Die Fans in der Oberliga feiern den treffsicheren Neuzugang ab Juni 2001.
Auf den großen Durchbruch muss er nicht mehr lange warten. Durch Verletzungssorgen der Franken kann er sich in der ersten Mannschaft etablieren, spielt in der Fußball-Bundesliga. Zum Glück fehlt nur noch eins. Flug gebucht, Eheringe im Gepäck, seine Verlobte Tamara wird sich freuen. Alles scheint perfekt, aber es geht noch besser. Champions League, die besten Teams der Welt messen sich. Cacau mittendrin nach seinem Wechsel zum VfB Stuttgart. Die sportliche Krönung: Deutscher Meister mit dem VfB in der Saison 2006/07. Er fühlt sich wohl im Schwabenland und vor allem in Deutschland: „Ich habe eine neue Heimat gefunden“, für die er sogar das Trikot überstreifen darf. Im Mai 2009 debütiert er für das deutsche Nationalteam bei einem Asien-Trip gegen China in Shanghai. Unvergessen, als Cacau das 4:0 bei der WM 2010 in Südafrika gegen Australien erzielt. Mit den Knien auf dem Rasen rutschend, streckt er beide Zeigefinger Richtung Himmel.
Die WM 2014 in Brasilien wird er nur als Zuschauer erleben. Die Schockdiagnose im Oktober 2012: Kreuzbandriss. Nach der Verletzung konnte er sich nicht mehr in die erste Elf der Stuttgarter zurück kämpfen. Zurzeit leidet er an einem Muskelbündelriss, wird zur Vorbereitung auf die Rückrunde der Stuttgarter in Kapstadt aber voraussichtlich wieder zur Verfügung stehen. In den Planungen von Bundestrainer Joachim Löw spielt er keine Rolle. Mitfiebern wird er auf jeden Fall und hat auch klare Vorstellungen, wer die Favoriten auf den Titelgewinn sind: „Deutschland, es ist extrem spielstark und natürlich die Brasilianer, sie werden hoch motiviert sein. Außerdem darf man Spanien nicht vergessen, der amtierende Welt- und Europameister hat qualitativ unglaubliche Spieler“. Für welche Nation er die Daumen drückt, lässt er noch offen: „Wenn Deutschland und Brasilien ins Finale kommen, dann müssen sie mir diese Frage nochmal stellen“.
Das brasilianische Volk weiß, wen es anfeuern wird und hofft, dass sich Geschichte eben doch wiederholt. 3:0 gegen den großen Favoriten Spanien, das gibt den Brasilianern Hoffnung für die WM. 30. Juni 2013 Maracana Stadion in Rio. Ein berauschtes Publikum durch eine beeindruckende Mannschaftsleistung. Brasilien gewinnt den Confederations Cup. Die Generalprobe für die Weltmeisterschaft sportlich gelungen, organisatorisch missglückt. Proteste gegen den Cup werden blutig von der Polizei niedergeschlagen. Demonstrationen gegen die Weltmeisterschaft 2014 und Olympia 2016 sind bereits angekündigt. „Ich habe Verständnis für die Proteste, wenn sie friedlich bleiben. Es gab Versprechungen, die nicht eingehalten wurden. Die Stadien sollten nicht durch Steuergelder finanziert werden. Im Endeffekt wurden die Arenen zu 80 bis 90% aus Steuergeldern finanziert“, zeigt sich Cacau solidarisch mit seinen Landsleuten. Des Weiteren gibt er dem ehemaligen Bayern Stürmer Giovanne Elber recht: „Ja, man kann schon sagen, dass es eine WM der Reichen wird.“ Die Karten sind für die meisten Menschen in Brasilien unerschwinglich. Es geht den Brasilianern aber um mehr als das Stadionerlebnis: „Sie wollen gemeinsam die Spiele verfolgen, zuhause oder draußen mit Freunden. Es geht den Brasilianern um das Drumherum“, weist Cacau noch auf einen anderen wichtigen Aspekt hin. Einige Stadien werden aber nicht fristgerecht an die FIFA übergeben werden können. Vor allem der tragische Unfall in Sao Paolo, bei dem ein Kran auf das Stadiondach stürzte und zwei Menschen ums Leben kamen, wirft die Bauarbeiten zurück. Cacau ist aber optimistisch: „Bis zum Anpfiff der Spiele werden alle Stadien stehen, Ich hoffe, dass es ein großes Spektakel wird.“
Sein Traum, bei der Heim-WM zu spielen, wird sich nicht erfüllen, dennoch hat er eine große Karriere hingelegt. Er kam von ganz unten, aber schaffte es durch Glauben, Willen und auch ein wenig Glück ganz nach oben auf den Zuckerhut.
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