Wenn Markus Rehm weit springen möchte, kann er sich nicht nur auf seine Anlauf- und Sprungtechnik verlassen, der Profiweitspringer mit amputiertem Unterschenkel baut auch auf die Technik seiner Prothese. Die Techniken des Sprungs und der Prothese stehen dabei in engem Zusammenhang. So bedingt die Entwicklung der einen stets auch eine Veränderung der anderen. Mit positiven Folgen auch für den Alltag.
London, Leverkusen, Lyon. Drei Städte, drei Weltrekorde, ein Mann: Markus Rehm. Der 25-Jährige hat seine Disziplin in den vergangenen Jahren dominiert und innerhalb von nur elf Monaten dreimal seinen eigenen Weltrekord verbessert – den Weltrekord im Weitsprung der beeinträchtigten Sportler. Bevor Markus Rehm über die Sandgrube fliegt, setzt er den letzten Bodenkontakt nicht mit seinem Fuß, sondern mit einer Laufschaufel. Dabei handelt es sich um den Fußteil einer Prothese für beinamputierte Weitspringer. Dieser technische Zusatz in Form einer Sprungfeder ermöglicht ihm durch mehr als 80 Carbonschichten eine optimale Kraftübertragung beim Absprung.
Dass Markus Rehm seit einigen Jahren mit einer Carbonfeder in den Leichtathletik-Stadien für Furore sorgt, hat derweil einen sportlichen Grund. Nachdem der begeisterte Wakeboarder im Alter von 14 Jahren gestürzt und von einem Motorboot überfahren wurde, musste sein schwer verletztes rechtes Bein unterhalb des Knies amputiert werden. Doch er kehrte, mit einer wasserfesten Prothese, auf das nasse Element zurück und belegte 2005 den zweiten Platz bei der deutschen Jugendmeisterschaft im Wakeboarden. Anschließend widmete er sich der Leichtathletik – mit noch größerem Erfolg. Seit 2008 hat sich der gebürtige Göppinger beim TSV Bayer 04 Leverkusen unter Anleitung der früheren Speerwurf-Weltmeisterin Steffi Nerius zum Spitzenathleten und Weltrekordhalter entwickelt. Inzwischen stehen für ihn jährlich internationale sportliche Höhepunkte an. In diesem Jahr die Europameisterschaft in Swansea, im nächsten die Weltmeisterschaft in Doha und 2016 die Paralympischen Spiele in Rio de Janeiro. Bei allen drei Veranstaltungen will er seinen Titel im Weitsprung verteidigen. „Natürlich kann ich mit den 7,95 Metern auch nicht leugnen, dass ich gerne die Acht-Meter-Marke knacken möchte“, sagt Markus Rehm. Ein weiteres Ziel ist für ihn die Teilnahme an den diesjährigen Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften der nicht-beeinträchtigten Sportler im Juli in Ulm. „Aktuell denke ich nicht, dass ich durch die Prothese einen technischen Vorteil habe. Sollte dies aber einmal zur Debatte stehen, muss man ganz klare Regeln formulieren“, sagt der Weitspringer. Die Suche nach genau solchen Regeln hat sich beim Deutschen Leichtathletik-Verband seit Januar intensiviert. Der Auslöser dafür war ein Erfolg von Markus Rehm – gegen (beidbeinige) Konkurrenten ohne Handicap. Er war bei den Nordrheinmeisterschaften zunächst außerhalb der Wertung gelistet worden, bevor er am folgenden Tag noch als Gewinner anerkannt wurde.
Doch nicht nur im Weitsprung gehört er mit seinen Leistungen zu den Besten: 2012 gewann Markus Rehm sowohl bei den Deutschen Meisterschaften als auch bei der Europameisterschaft neben dem Titel im Weitsprung auch den Sprintwettbewerb über 100 Meter. Zudem belegte er im selben Jahr bei den Paralympics in London mit der deutschen Staffel über viermal 100 Meter den dritten Platz und entschied den Sprung-Wettbewerb der kombinierten Klassen F42/44 für sich. In diesen treten Sportler gegeneinander an, die wie Markus Rehm auf eine Prothese am Bein angewiesen sind. Sein Gold-Sprung in London brachte ihm unterdessen nicht nur einen Vorsprung von 1,02 Metern auf den zweitplatzierten Teamkollegen Wojtek Czyz ein. Mit 7,35 Meter verbesserte er zugleich seinen 19 Monate alten Weltrekord um 26 Zentimeter. Trotz dieser Steigerung hat sich „technisch gesehen vor London an meiner Prothese fast gar nichts entwickelt. Erst danach habe ich eine anders geformte Carbonfeder verwendet“, sagt Markus Rehm. Diese ermöglicht es ihm, eine höhere Anlaufgeschwindigkeit zu erreichen. Als Orthopädiemeister kümmert er sich dabei selbst um die notwendigen Anpassungen, damit die technischen Ergänzungen optimal mit dem Stumpf seines rechten Oberschenkels verbunden sind. Zusätzlich gehören zu dieser Detailarbeit regelmäßige Korrekturen, um auf das veränderte Leistungsniveau zu reagieren. Doch nicht nur für sich selbst ist der Weitspringer stets auf der Suche nach den besten Einstellungen – sowohl Sportkollegen als auch Personen mit Prothesen für den Alltag profitieren von seinen Kenntnissen.
Bei der Auswahl der richtigen Weitsprung-Prothese, die laut dem Regelwerk frei erhältlich sein muss, gilt es für den 25-Jährigen, andauernd einen optimalen Kompromiss zu finden: „Für meine Maximalgeschwindigkeit benötige ich eine etwas weichere und längere Prothese. Für den Absprung muss sie aber deutlich härter sein.“ Auch aufgrund dieser Einschränkung glaubt der Seriensieger nicht, dass die derzeitigen Modelle leistungsfähiger als menschliche Beine sind. Dafür spricht ebenfalls, dass sein Weltrekord, den er im vergangenen Jahr zunächst Mitte Juli bei einem Sportfest in Leverkusen auf 7,54 Meter und zwölf Tage später bei der Weltmeisterschaft in Lyon auf 7,95 Meter verbesserte, noch exakt einen Meter hinter der Bestmarke des nicht beeinträchtigten Weitspringers Mike Powell liegt. „Die technische Entwicklung ist gut und ganz klar notwendig. Man muss versuchen, möglichst nah an die einzigartigen und hoch komplexen Körperteile heranzukommen“, sagt Markus Rehm. Als Grundlage für die individuellen Anpassungen dient ihm ein Unterschenkelersatz der Firma Össur. Allein dessen Carbonfeder kostet circa 2.500 Euro. Mit den weiteren Materialaufwendungen sowie den zahlreichen Arbeitsstunden für den optimalen Halt steigen die Gesamtkosten auf etwa 8.000 Euro.
Im Gegensatz zu Markus Rehm ist dessen deutscher Teamkollege Heinrich Popow mit Modellen der Firma Ottobock unterwegs. Der oberschenkelamputierte Spezialist über 100 Meter und Paralympics-Sieger dieser Disziplin in London ist außerdem kein Orthopädiemeister. Dennoch bringt er sich als Testpatient bei der Entwicklung der Geräte ein – und zwar nicht nur bei den sportlichen Exemplaren, sondern insbesondere auch bei den deutlich komplexeren Alltagsmodellen. „Die Rückmeldungen von Sportlern sind meistens feinfühliger“, sagt Rüdiger Herzog von Ottobock. Die geringere Komplexität der Sportprothesen ist unter anderem durch das Reglement bedingt – schließlich dürfen die technischen Unterstützungen im Profisport keine eigene Energieversorgung besitzen. Auch deshalb bezeichnet der Unternehmenssprecher die Entwicklungszeit der mechanischen Sportprodukte als „sehr viel kürzer“ verglichen mit den ungefähr zehn Jahren, die für die Umsetzung der ersten vollständig mikroprozessor-gesteuerten Beinprothese notwendig waren. Dass sich an den Carbonfedern für die Leichtathleten technisch noch viel verändern wird, glaubt er indes nicht. „Es ist aber nicht nur der technische Aspekt, der leistungsfördernd ist. Zu den Fähigkeiten des Athleten kommt auch noch die intensive Zusammenarbeit zwischen ihm und den Orthopädiemechanikern hinzu.“ Neben den Rückmeldungen von Heinrich Popow profitiert Ottobock ebenfalls vom paralympischen Engagement. Schließlich haben die Mitarbeiter der Firma seit den Paralympischen Spielen in Seoul 1988 durch Reparaturen vor Ort regelmäßig einen direkten Kontakt zu den Athleten.
Während die technische Entwicklung der Carbonfeder in der Leichtathletik zuletzt keine großen Sprünge mehr machte, entstehen in anderen Bereichen immer wieder neue Möglichkeiten. Zuletzt beim Ski- und Snowboardfahren. Dort soll das Beinprothesensystem „ProCarve“ den Athleten ein besseres Gefühl auf der Piste ermöglichen. „Nicht nur Leistungssportler, sondern auch ambitionierte Freizeitsportler erhalten damit ein geeignetes Gerät“, sagt Rüdiger Herzog. Schließlich steht die Entwicklung der Prothesen im Profibereich der beeinträchtigten Sportler stets in engem Zusammenhang mit den Fortschritten der Alltagsausführungen. Das neue Modell kann übrigens auch abseits der Piste genutzt werden. Auf dem Wasser. Beim Wakeboarden.
Dominique Wehrle
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