Genau vier Monate ist es her, dass Sportler aus aller Welt bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi/Russland um Edelmetall, Ruhm und Ehre kämpften. Doch man wird das Gefühl nicht los, dass der Sport dabei nur noch Nebensache war. Vielmehr wurde im Vorfeld der Spiele über mögliche Boykotte, Missstände im Gastgeberland und Absagen von Politikern bei der Eröffnungs- und Schlussfeier diskutiert.
Ein Interview mit Dr. Sven Güldenpfennig, Sport- und Kulturwissenschaftler aus Aachen, über die Entwicklung der Olympischen Spiele, die Frage nach der politischen Instrumentalisierung und die immer größer werdende Abneigung gegen Sportgroßereignisse in der Bevölkerung.
Herr Güldenpfennig, haben Sie die Olympischen Spiele von Sotschi im Fernsehen verfolgt?
Ja, wie immer seit mehr als 40 Jahren aus zugleich persönlichem Interesse als Sportfan sowie aus professionellem Interesse als wissenschaftlicher Beobachter und publizistischer Begleiter des olympischen Geschehens.
Im Vorfeld wurde in den Medien über Gigantismus, Umweltverschmutzungen und Menschenrechtsverletzungen diskutiert, worauf einige Politiker ihren Besuch in Sotschi absagten. Verkommen die Olympischen Spiele zu einem politischen Schlagabtausch oder lassen sich Sport und Politik nicht trennen?
Die Olympischen Spiele verkommen nicht erst gegenwärtig zu einem politischen Schlagabtausch. Sie sind vielmehr, seit jeher, – unvermeidlich – eines von zahllosen Feldern der innen- und außenpolitischen Auseinandersetzung, sowohl innerhalb des jeweiligen Ausrichterlandes, als auch in der näheren Umgebung sowie der gesamten globalen Welt. Das Kernproblem ist, dass es bislang keine wohlbegründete begriffliche Erfassung von „Sportpolitik“ gibt. Das heißt, es fehlt die grundlegende Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen politischen Interventionen in das Sportgeschehen. Grundsätzlich legitim ist eine Politik für Sport. Illegitim ist eine Politik durch Sport, bei der das kulturelle Eigenrecht des Sports beschädigt oder gänzlich zerstört wird. So paradox das klingen mag: Sport ist unpolitisch und politisch zugleich. Auf der einen Seite ist das Sporttreiben an sich, das Sporthandeln auf dem Platz, unpolitisch. Auf der anderen Seite ist die Herstellung der Rahmenbedingungen für dieses nichtpolitische Geschehen sehr wohl politikfähig, wenn nicht sogar politikbedürftig.
Schaut man in die Geschichte, hatte die Politik immer ein Interesse an den Olympischen Spielen. 1936 nutzte das NS-Regime die Spiele um den Schein eines toleranten und friedlichen Deutschlands zu erzielen. Waren diese Spiele die Geburtsstunde der politischen Instrumentalisierung von Sportgroßereignissen?
Das NS-Regime hat mit den Spielen von Berlin 1936 in der Tat ein Beispiel für den Versuch einer solchen politischen Instrumentalisierung geboten. Im Gegensatz zu dem inzwischen zum vermeintlich feststehenden Wissen erstarrten Bild von Berlin 1936 als „Hitlers Spiele“, ist dieses Ereignis allerdings tatsächlich weithin bemerkenswerter und kann als gelungene Olympische Spiele bezeichnet werden. Hitler hat, natürlich nicht aus Respekt vor dem kulturellen Eigenrecht der Sportidee, jedoch im Interesse seiner weiterreichenden politischen Ziele, in seinen eigenen Reihen einen vorübergehenden Verbeugung vor der symbolischen Macht der Olympischen Bewegung und ihres Regelwerkes durchgesetzt. Auch sind die Spiele von Berlin zwar ein besonders spektakulärer, aber keineswegs der erste Fall eines solchen Instrumentalisierungs-Versuches gewesen. Diese Versuche begleiten die Olympische Bewegung der Neuzeit vielmehr von Beginn an.
Die wohl schwärzeste Stunde erlebten die Olympischen Spiele mit dem Geiseldrama 1972 in München. Seitdem erinnern die Spiele mehr einem Hochsicherheitsgipfel, als an eine friedliche Zusammenkunft von Sportlern aus aller Welt. Ist es nicht absurd, wenn man heutzutage immer noch von einem Ereignis des „Friedens“ spricht?
Heutzutage sind doch alle internationalen kulturellen oder politischen Großveranstaltungen mit enormen Sicherheitsmaßnahmen der ausrichtenden Staaten verbunden, nicht nur die Olympischen Spiele. Der friedliche und insofern sinngerechte Veranstaltungsablauf muss dadurch grundsätzlich nicht beeinträchtigt werden. Im Gegenteil: Der Einsatz von ereignissichernden Maßnahmen unterstreicht sogar das tatsächliche Verhältnis zwischen Olympia und Frieden. Olympische Spiele brauchen weit eher den Frieden, als dass sie ihn bringen. Die Sicherheitsvorkehrungen des Ausrichters gewährleisten am Veranstaltungsort die bereits zuvor politisch geschaffenen hinreichenden globalen oder zumindest regionalen Friedensbedingungen, ohne welche die Spiele überhaupt nicht stattfinden könnten.
Auch Boykotte sind Teil der Geschichte der Olympischen Spiele. 1980 boykottierte die USA die Spiele von Moskau, im Gegenzug die damalige Sowjetunion die Spiele von Los Angeles 1984. Sehen Sie Boykotte als probates Mittel des Protestes oder geht ein Boykott nur zu Lasten der Sportler?
Boykotte gegen kulturelle Ereignisse, gegen ihre Veranstalter, Ausrichter oder Teilnehmer sind nicht nur häufig wirkungslos im Sinne der behaupteten Ziele. Sie sind vor allem dann illegitim, wenn sie das kulturelle Ereignis Olympische Spiele nur als vermeintlich geeigneten Anlass zum Austrag außersportlicher politischer Konflikte zu nutzen versuchen. Zudem beeinträchtigen oder zerstören sie die Teilnahmemöglichkeiten potentiell einer gesamten olympischen Athletengeneration.
Legitim können Boykotte nur dann sein, wenn sie der Verteidigung der Regeln der Olympischen Charta dienen. Zum Beispiel beim Boykott gegen die Beteiligung des Apartheid-Staates Südafrika, welcher das in der Olympischen Charta kodifizierte Nichtdiskriminierungs-Gebot aus rassischen Gründen schon in seiner Staatsverfassung verletzte.
Sind die olympischen Werte wie beispielsweise der Friedensgedanke, die Entwicklung der Menschheit durch Sport oder die Wahrung der Menschenrechte noch Werte, die die Olympischen Spiele verkörpern oder nur schwarze Tinte auf weißem Papier?
Die olympischen Werte müssen weiterhin das olympische Geschehen leiten, wenn Olympia eine sinngerechte Zukunft haben soll. Und sie leiten auch faktisch das Geschehen weitaus nachdrücklicher, als dies im Zuge zahlloser kritischer Beschreibungen des Geschehens in der medialen und auch wissenschaftlichen Öffentlichkeit vermittelt wird.
Seit einigen Jahren ist eine Vergabe in mehrheitlich autokratisch regierte Länder bei Sportgroßereignissen zu erkennen. Bei den Olympischen Spielen sind Russland oder China zu nennen. Finden Sie es richtig, dass die Olympischen Spiele in solche Länder vergeben werden?
Unter dem Motto des weltweiten „Wanderns der Spiele“ ist es richtig, als Ausrichter alle diejenigen Länder zum Ausrichtungs-Wettbewerb zuzulassen, welche im Hinblick auf ihre ökonomischen, politischen, sicherheits- sowie verfassungs- und menschenrechtlichen Gegebenheiten globale Mindest-Standards erfüllen. China und Russland sind, bei allen kritikwürdigen Einschränkungen, zum Kreis dieser Länder zu zählen. Es gibt, umgekehrt, nur einen relativ kleinen Kreis von so genannten „failing states“, die nach derzeitigem Stand der Dinge von vornherein auszuschließen sind. Wir dürfen uns in diesem Falle nicht am Maß einiger weniger hochentwickelter westlicher Länder orientieren.
Auf der anderen Seite gibt es mit der Region Graubünden und München zwei Bewerbungen in der jüngeren Vergangenheit, die an Bürgerprotesten gescheitert bzw. auf keine mehrheitliche Zustimmung in der Bevölkerung gestoßen sind. Befinden sich die Olympischen Spiele in einer Krise?
In der genannten Hinsicht befindet sich die Olympische Bewegung tatsächlich in einer Krise. Denn ohne Zustimmung und aktive Mitträgerschaft durch die Bevölkerungen und Institutionen der ausrichtenden Länder können olympische Ereignisse nicht stattfinden. Zuletzt hat London 2012 bewiesen, dass Olympische Spiele, trotz zahlreicher vorausgehender Bedenken und Einwände seitens der Bevölkerung und der Medien, letztendlich zu einem begeisternden und somit für die Olympische Bewegung insgesamt stärkenden Ereignis werden können. Dass dies in den beiden genannten Fällen schon im Vorfeld der Bewerbung misslungen ist, ist vor allem dem Mangel an einer überzeugenden und durch solche Überzeugungskraft mitreißenden Kommunikationsstrategie der Verantwortlichen zuzuschreiben.
Inwieweit trägt das IOC selbst Schuld an dieser Situation?
Das IOC und alle olympischen Akteure sind unter der Perspektive gefordert, sowohl ihre inneren Strukturen als auch die Begründungsstrategien für ihr äußeres Kommunikatives und Entscheidungshandeln grundlegend zu überarbeiten und zu revidieren. Und sowohl die Bevölkerungen als auch die Medien in demokratisch verfassten potentiellen Ausrichterländern müssen sich fragen lassen, ob sie durch eine bequeme, ja schmarotzerhafte „Ohne-mich-Haltung“ nach dem englischen Motto „not in my backyard“ (gern, aber nicht vor meiner Haustür) genau jene Konstellation mit heraufbeschwören wollen, welche sie anschließend kritisieren – dass es nämlich sportliche Großereignisse scheinbar unvermeidlich inzwischen zu undemokratisch verfassten Ländern hinzieht.
Dr. Thomas Bach ist seit September 2013 IOC-Präsident. Ist er der richtige Mann, um die Glaubwürdigkeit des IOC wieder herzustellen?
Dr. Thomas Bach kann sich als die richtige Person erweisen, um die Glaubwürdigkeit des IOC wiederherzustellen, indem er jene Fortschritte fortschreibt, welche in dieser Hinsicht bereits unter seinem Vorgänger Jacques Rogge erreicht worden sind. Grundsätzlich dürfen der Bewegungsspielraum und damit die Macht zu fundamentalen Reformen von Amtsträgern in internationalen Sportorganisationen nicht überschätzt werden.
Nächstes Jahr wird über die Vergabe der Olympischen Winterspiele 2022 entschieden. Im Rennen sind Oslo (Norwegen), Lemberg (Ukraine), Peking (China) und Almaty (Kasachstan). Welche Stadt würden Sie sich persönlich wünschen?
Ein vor allem sportpolitisch interessierter wissenschaftlicher Sportbeobachter wie ich muss die Perspektive etwas weiter wählen, und ich komme dann zu dem Urteil: Nachdem mit Pyeongchang ein asiatischer Bewerber für 2018 der Stadt München vorgezogen wurde, wäre jetzt wieder ein europäischer Bewerber dran. Da die Ukraine aus naheliegenden Gründen derzeit und auf absehbare Zeit mit einem Bewerber Lemberg kaum olympiafähig erscheint, muss bei einer solchen Bewerberkonstellation natürlich immer eine solch magische Wintersport-Ikone wie Oslo meine persönliche Wunschstadt sein.
Felix Pietrock
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