Es ist bereits dämmrig, ein grauer Schleier legt sich über den großen Hof inmitten des Geländes einer alten Villa. Eisige Temperaturen, Atemwölkchen in der Abendluft. Am Ende des Hofes befindet sich eine graue, schwere Eisentür, dahinter eine lange Treppe, über die man in die Turnhalle der Anlage gelangt. Es riecht nach altem Holz und die Wände empfangen Besucher mit einer unfreundlichen Dunkelheit. Rechts der Treppe eine Fensterfront, draußen ein verwildertes Schwimmbad mit ehemals weißen Fliesen, die an den einstigen Wohlstand des Gebäudes erinnern. Im Hintergrund liegt Esslingen am Fuße des Schönbergs, auf dem sich das Anwesen befindet.
Es möglich zu machen, war ein Traum
Dimitrios Agyropoulos, Verantwortlicher des Esslinger Projekts „DurchBoxen“, ist gerade dabei die große Eisentür aufzuschließen. Im Hintergrund wartet bereits ein groß gewachsener Jugendlicher in blauem Hoodie, Jogginghose und Turnschuhen. Beide unterhalten sich angeregt, während sie langsam die Stufen hinab steigen. „Dimi“ nennt der Junge den bärtigen Mann. Der Name hallt von den Wänden wider und verebbt in den Tiefen des Kellers. Das Gebäude, in dem sie sich befinden, ist in Besitz der Stiftung Jugendhilfe aktiv. Hier, im Theodor-Rothschild-Haus, bietet diese Stiftung Wohngruppen für junge Mütter und deren Kinder, eine Kindertagesstätte, eine Schule für Erziehungshilfe und verschiedene Wohngruppen und Erziehungsstellen für verhaltensschwierige Kinder und Jugendliche. Wöchentlich findet dort ein Boxtraining für Jugendliche statt, unter der Leitung von Dimitrios Agyropoulos und Erik Fuhrmann, Boxtrainer und einst aktiver Boxer der deutschen Nationalmannschaft. „DurchBoxen“ ist eine Kooperation des freien Jugendhilfeträgers Jugendhilfe aktiv und dem ortsansässigen Boxverein Fit-Boxing e.V. „Seit Beginn meiner beruflichen Karriere im sozialen Bereich war es mein Traum so ein Boxprojekt auf die Beine zu stellen“, sagt Dimi, der eine Boxtrainer-Ausbildung gemacht hat. Angefangen hat es mit einem einfachen Boxtraining für Jugendliche. Aus der Idee, Sport und Pädagogik zu verbinden, wurde Realität – mit Unterstützung seines Freundes Erik findet es inzwischen zwei Mal wöchentlich statt. „Durch Boxen kann man etwas erreichen und hin und wieder kommt es vor, dass man sich im Leben durchboxen muss. Wir haben rumgehirnt, als es um den Namen ging. Er ist er bewusst gewählt und transportiert eine zentrale Message“, sagt der 40-Jährige, während er die schweren Garagentore der Halle öffnet. Boxen mit Köpfchen steht heute auf der Tagesordnung.
Macht’s möglich, von anderen zu lernen
In der kleinen Halle ist es kalt. Etwa zehn auf 15 Meter fasst das Spielfeld. Die Wände sind mit hellbraunen Holzpaneelen verkleidet. Links und rechts zwei Tore, die in rot-weißer Farbe an die Wand gezeichnet sind. Dimitrios und der Junge bauen auf, während sie mehr und mehr Hilfe von eintreffenden Boxschülern bekommen. Pünktlich zu Trainingsbeginn taucht ein großer, braunhaariger Mann auf. Seine Statur ist Angst einflößend, der Ausdruck auf seinem Gesicht hingegen freundlich. Mit Erik ist das Trainerteam nun vollständig. Nach einer kurzen Begrüßung ertönt ein Pfiff und die inzwischen neunköpfige Gruppe setzt sich langsam in Bewegung, um schließlich in einen lockeren Lauf zu verfallen. Insgesamt nehmen zwischen 20 und 25 Jungen und Mädchen an dem Projekt teil. Die Schüler, die hier zusammentreffen, kommen aus den unterschiedlichsten Bereichen und Altersklassen. „Zehn bis 16 Jahre ist so die Grenze, aber wir haben auch 17-Jährige“, sagt Dimi, während er einen großen Kasten an die Wand schiebt. Eine bunte Mischung aus Kindern und Teenagern, aus Markenklamotten und einfachen Shirts trabt an ihm vorbei. Manche Teilnehmer stammen aus funktionierenden Familien, mittelständisch, gut erzogen. Anderen wiederum sind gutes Benehmen und gute Familienverhältnisse eher fremd. Vor allem die Kooperation mit Grund-, Haupt-, Realschulen und Gymnasien, sowie Sonderschulformen und Förderschule schafft diese Bandbreite an verschiedenen Teilnehmern.
Ein simples System, das unterschiedliche Charaktere zusammenbringt und diese voneinander lernen lässt. Vor allem die sozial schwierigen Jugendlichen profitieren von dem Konzept. Das Training macht es möglich, dass sie in erster Linie an ihren eigenen Schwächen arbeiten und darüber hinaus lernen, mit anderen, sozial stärkeren Jungen und Mädchen zu kooperieren. „Die meisten kommen über die Schule. Das heißt, dass die Lehrer von dem Projekt erzählen und der Schülerin oder dem Schüler vorschlagen, hier einmal vorbeizuschauen“, erklärt Dimi und platziert dabei eine Musikanlage in einer Ecke der Halle. Ein leichter Luftzug ist zu spüren, als hinter ihm erneut die Menge vorbeirauscht.
Macht’s möglich, Fähigkeiten zu entwickeln
„First show a little respect, change your behaviour”, schallt die Musik des Rappers KRS ONE aus den Boxen. Zwischen den Wänden der alten Halle ist es wärmer geworden und in der Luft liegt bereits ein leichter Duft aus nassem Schweiß. Die Jugendlichen stöhnen und kämpfen gegen ihren inneren Schweinehund, als Erik mit den ersten Boxübungen beginnt. Jeder von ihnen ist freiwillig hier. Trainer und Teilnehmer wissen das gleichermaßen. Häufig sind das harte Training und die Freiheit, jeden Moment gehen zu können, eine Herausforderung für die Schüler. „Es kann auch sein, dass jemand beginnt und nach zwei oder drei Monaten wieder aufhört. Aus welchen Gründen auch immer. Weil es zu heftig ist, weil er es nicht einhalten kann, diszipliniert zu sein, oder weil wir ihn rausschmeißen“, erklärt Dimi und lässt dabei seine Sprösslinge nicht aus den Augen. Der 39-Jährige erklärt das Ziel des Projekts: „Es geht um die Schlüsselqualifikation, auch für später. Themen wie Disziplin, Pünktlichkeit, Respekt, Regeln einhalten. Das sind Fähigkeiten, die sich später auch ein Arbeitgeber wünscht.“ Zum Erlernen dieser zentralen Regeln und deren Einhaltung ist ein stetiger Austausch zwischen den Trainern und der Schule von großer Bedeutung. In einem BoxPass werden die individuellen Ziele der Schüler notiert und bei Bedarf überarbeitet. Hierbei sorgt die Einteilung in verschiedene Leistungsklassen für den nötigen Ansporn im Training. Wer sich verbessert, der hat gute Chancen aufzusteigen. „Es gibt den Rookie, Intermediate, der ist dann etwas fortgeschritten, Profi und Tutor“, erklärt Dimi. „Tutoren sind dann immer die, die das Projekt erfolgreich absolviert haben. Die kriegen das Zertifikat mit großer Übergabe und so weiter. Sie können, wenn sich möchten, weiterhin kommen und als Tutoren mithelfen.“ Dimi wirft einen zufriedenen Blick auf die Jugendlichen. Die Anstrengung ist ihnen ins Gesicht geschrieben, dabei wirken einige besonders konzentriert. Einer von ihnen ist Kevin. Mit seinen 16 Jahren hat er, zusammen mit zwei weiteren Teilnehmern, im vergangen Jahr erstmals den Status des Tutors erreicht und somit inzwischen eine Vorbildfunktion für die Jungen im Team.
Macht’s möglich zu reden
„Too many times had I’ve held on when I need to push away. Afraid to say what was on my mind, afraid to say what I need to say“, schallt es aus den Lautsprechern. Während Linkin Park auf Hochtouren läuft, nimmt das Schnaufen in der Halle zu. Inzwischen scheint keiner der Jugendlichen mehr etwas von den niedrigen Temperaturen zu spüren. Rote Köpfe und angestrengte Gesichter. Sie stehen sich paarweise gegenüber und versuchen die jeweils fremden Schultern mit den Händen zu berühren. Die Älteren parieren und kämpfen gegen die immer schwerer werdenden Arme und Beine, während zwei der kleineren Jungs Faxen machen. Erik greift ein und trennt die beiden. Ausreden werden hier nicht gerne gesehen und wer nicht pariert, muss mit den Konsequenzen leben. Oft wird die Stunde unterbrochen und es gibt eine kleine Belehrungsrunde, in der der Ton häufig rau ausfällt. „Du musst nicht groß diskutieren, sondern einfach machen. Es gibt einfach Situationen im Leben, da muss man sich durchboxen und durchbeißen und das ist das, was wir mitgeben wollen“, sagt Dimi.
Währenddessen sucht Erik im anderen Teil der Halle das Gespräch mit dem Jüngsten der Runde. Die Jugendlichen geben sich weiterhin Klatscher auf die Schultern des jeweiligen Partners. „Das Training ist ein bisschen mehr als nur das Boxen. Da ist bei vielen Jugendlichen der Boxsport nur das Medium, um überhaupt offener zu sein oder ins Gespräch zu kommen“, erklärt Dimi. „Da gibt es einen Jugendlichen, der tickt aus und prügelt wie ein Bekloppter auf den Boxsack ein und du fragst dich, was eigentlich mit dem los ist. Oft versuchen die Jugendlichen über die sozialen Medien Kontakt zu ihren Trainern aufzunehmen. Da passiert es schon mal, dass spät in der Nacht eine Nachricht kommt, in der sich jemand Unterstützung erhofft. An diesem Punkt treffen der Sport und der pädagogische Aspekt dieses Konzepts aufeinander. Dimi ist sich seiner Verantwortung als Ansprechpartner bewusst. „Wichtig ist ja auch immer, dass wir eine Jugendhilfeeinrichtung sind. Da kann beim einen oder anderen tatsächlich der Bedarf nach einer Jugendhilfe entstehen. In dem Fall kann man dann natürlich auch als Träger noch mal anders funktionieren. Das musst du irgendwo auffangen können und im Verein geht das eher schlecht“, sagt er, steht auf und läuft in Richtung der Kinder. Die Luft ist stickig geworden. Auf dem Boden glänzen einzelne Schweißtropfen, im Hintergrund legt die Musik eine kurze Pause ein.
Macht’s möglich nachzueifern
18:45 Uhr. In der Halle ist es inzwischen ruhiger geworden, die Musik ist aus. Lediglich das Atmen der Jungen ist noch zu vernehmen. „Jetzt gibt es Wellness“, sagt Dimi und die Gruppe läuft los, um sich mit Matten auszurüsten und diese anschließend auf eine freie Stelle in der Halle zu platzieren. Bevor es in die Entspannung geht, folgen znoch einige Crunches und Liegestützen. Auch dabei gibt es sowohl Ehrgeizige als auch weniger Ehrgeizige. Erik zeigt Verständnis für die Teilnehmer, freut sich aber über jeden, der im Training motiviert ist. „Es gibt Schülerinnen und Schüler, die gerne mehr boxen würden und die haben auch Talent. Wichtig ist aber, dass sie noch mehr Disziplin bekommen. Dann nehme ich sie gerne auch mal mit in meinen Verein“, sagt der ehemalige Boxprofi. Er selbst ist erst mit 20 Jahren zum Boxsport gekommen, wurde erfolgreich und ist heute ein Vorbild für die Jugendlichen. Einige von ihnen wollen mehr als nur zwei Mal pro Woche in dem Projekt boxen. Um das zu erreichen, entwickeln sie häufig großen Ehrgeiz. Auch die beiden Schirmherren des Projekts, Alessia Graf und Firat Aslan, sind hierbei Idole der Kleinen. Beide haben sich bereits den Weltmeistertitel erkämpft und infolgedessen sind Autogramme und Fotos mit den beiden bei den Jugendlichen sehr beliebt. Auf Anfrage der Verantwortlichen haben sich die Zwei bereit erklärt, als Schirmherren zu fungieren, seitdem sind sie auf offiziellen Veranstaltungen stets vertreten. „Bei größeren Events übergeben sie die Zertifikate. Da fahren die Kids natürlich drauf ab“, sagt Erik und lacht. Im Team wird es unruhig. Man verlangt, dass Erik sich erneut der Gruppe anschließt, um das Training gemeinsam zu beenden. Inzwischen ist es 19 Uhr. Wer einen Blick in die Runde wirft, blickt in lauter erschöpfte und zugleich glückliche Gesichter.
Der Hof ist inzwischen in ein tief dunkles Schwarz getaucht. Nur vereinzelte Scheinwerfer spenden ein wenig Licht auf dem großen Platz. Es ist noch kälter geworden. Im Schein des gelben Scheinwerferlichts bilden sich noch immer Atemwölkchen, während Dimi die schwere Eisentür hinter sich verschließt. Vor der Tür verabschieden sich die Jugendlichen von den beiden Trainern. Beide haben den Schülern ein weiteres Mal die Möglichkeit gegeben hier zusammenzukommen, sich auszutoben und an sich und ihren persönlichen Zielen zu arbeiten. Und wer weiß, vielleicht kommt heute Abend doch noch eine Nachricht. Weil es daheim nicht läuft. Weil der Trainer ihnen helfen kann.
Juliane Zylka
- Fünf Stunden am Abgrund - 15. Juli 2017
- Götterdämmerung im FIFA-Olymp - 18. November 2015
- Brot, Macht und Spiele - 11. November 2015