„Ein Tor ist gültig erzielt, wenn der Ball die Torlinie zwischen den Torpfosten und unterhalb der Querlatte vollständig überquert, sofern das Team, das den Treffer erzielt hat, zuvor nicht gegen die Spielregeln verstoßen hat.“ Das Regelwerk des Fußballs erscheint eindeutig und unmissverständlich, umfassen die offiziellen Statuten des Fußball-Weltverbands FIFA doch mehr als 150 Seiten und scheinen somit genügend über das Reglement zu informieren. Jedoch sollte im Jahr 1966 folgender historische Moment die Fußballwelt auf den Kopf stellen.
Es ist die 101. Minute im Fußball WM-Finale von 1966 in London. Es stehen sich Gastgeber England und die deutsche Nationalmannschaft gegenüber. Der englische Flügelspieler Alan Ball flankt scharf auf Mittelstürmer Geoff Hurst. Der Mann mit der Nummer zehn nimmt den Ball mit der Innenseite an und lässt mit einer flinken Drehung Gegenspieler Willi Schulz ins Leere laufen. Beherzt feuert Hurst den Ball auf das Gehäuse des deutschen Torhüters Hans Tilkowski. Von der Unterkante der Latte springt der Ball auf und Abwehrspieler Wolfgang Weber köpft den Ball über das Tor ins Aus. Eckball. Doch die englischen Akteure protestieren, der Ball habe die Torlinie überschritten und attackieren Schiedsrichter Gottfried Dienst. Sekunden der Verwirrung. Der Schweizer Unparteiische sucht Rat bei seinem russischen Linienrichter Tofiq Bahramov. Dieser behauptet, den Ball hinter der Linie gesehen zu haben und zeigt mit der Fahne auf die Mittellinie. Somit erklärt Dienst den Treffer für gültig. Die englischen Fans jubeln und stürmen auf das Feld. Wut und Verzweiflung stehen den mitgereisten deutschen Anhängern in die Gesichter geschrieben.
Die rund 97.000 Zuschauer im Wembley-Stadion wurden Augenzeugen der Geburtsstunde des berühmtesten Mythos der Fußballhistorie. Beachtliche 89 Tore fielen bei dieser WM, doch dieses ging als das „Tor des Jahrhunderts“ in die Geschichtsbücher ein. Denn durch dieses „Phantomtor“ wurde England mit ihrer „Golden Generation“ zum ersten und bis heute letzten Mal Weltmeister. Gleichzeitig machte die anhaltende Diskussion, ob der Ball die Torlinie überquert hatte oder nicht, England zum Erzfeind der Deutschen. Nach dem mit 4:2 verlorenen Spiel zeigte sich die deutsche Mannschaft um Kapitän Uwe Seeler zwar als fairer Verlierer, dennoch sollten sie den ganzen Abend die spielentscheidende Szene diskutieren.
„Wir haben 2:2 verloren“
Dabei waren sie nicht allein: Am Tag nach dem 30. Juli 1966 war die Aufregung groß. Die „BILD“ titelte: „Wir haben 2:2 verloren“. Dementsprechend euphorisch wurde die deutsche Mannschaft bei ihrer Heimkehr in Frankfurt empfangen. Der Vize-Weltmeister durfte sich wie ein Champion fühlen, hatte doch eine ganze Nation den Ball klar vor der Linie gesehen und sich um den Titel betrogen gefühlt. Für ihr sportliches Verhalten nach der Niederlage wurde die deutsche Elf sogar von der internationalen Presse gelobt und wenig später zur „Mannschaft des Jahres“ ernannt. Die FAZ befand: „Sie hat mit dieser Besonnenheit in diesem Moment für den deutschen Sport und für das deutsche Ansehen mehr getan, als sie mit dem Gewinn des Titels je hätte erreichen können.“
Doch in Kneipen und an Stammtischen war nur ein Thema allgegenwärtig: War der Ball im Tor oder nicht? Diese Frage stellten sich auch die TV-Sender, so dass der TV-Zuschauer tagelang nur noch Geoff Hursts Lattentreffer in diversen Zeitlupen zu sehen bekam. Der Protagonist äußerte sich während eines Interviews in diplomatischer Manier: „Nach meinem Schuss aus halber Drehung fiel ich hin, hatte keine gute Sicht.“ Die Engländer hingegen waren sich sicher, dass der Ball hinter der Linie war.
Sinnbildlich für die komplette deutsche Nation schilderte Torwart Hans Tilkowski den Vorfall wie folgt: „Er prallte von der Latte ab und sprang von der Linie zurück ins Feld. Ich schaute über meine linke Schulter nach hinten und sah es genau: Es war kein Tor!“
Die Aufklärung erfolgte im Jahr 2006
Der Zweifel am Wembley-Tor überlebte mehrere Jahrzehnte, da technische Hilfsmittel, wie zum Beispiel die neue Torlininien-Technik „GoalControl“, noch nicht ausgereift genug waren, um eine eindeutige Entscheidung zu treffen. Daher hielten verbale Diskussionen den Mythos und es schien kein Ende in Sicht. 2006 kamen Wissenschaftler der Oxford University mithilfe eines 35mm Films, der während des Spiels aufgenommen wurde, zu dem Ergebnis, dass der Ball die Torlinie mit Sicherheit nicht vollständig überquert hatte. Den Diskussionen tat dies jedoch keinen Abbruch.
Mittlerweile ist der Begriff „Wembley-Tor“ in Deutschland zu einem Synonym für einen Lattentreffer geworden, bei dem der Ball von der Unterkante der Torlatte nach unten springt und dabei die Torlinie möglicherweise nicht vollständig überquert. In England hingegen ist dieser Begriff den meisten Menschen fremd, da dort von einem „Ghost Tor“ die Rede ist.
Sobald heute eine ähnliche Situation im Fußball passiert, werden den Fußballfans Erinnerungen an das Wembley-Tor ins Gedächtnis gerufen. Das beste Beispiel hierfür ereignete sich 2010 im WM-Achtelfinale zwischen – na klar, England und Deutschland. Frank Lampard, Englands Mittelfeldmotor, war es vor fünf Jahren, der von der Strafraumgrenze aus abzog und die Unterkante der Latte traf. Der Unterschied zu 1966: Der Ball war gut sichtbar hinter der Linie, der uruguayische Referee Jorge Larrionda ließ allerdings weiterspielen. Auch weil sein Linienrichter schlecht stand und ihm somit keinen Hinweis geben konnte. Viele Medien sprachen damals von der Rache für das Tor 44 Jahre zuvor. „Rache ist süß“ oder „Deutschland mit Revanche für Wembley“ lauteten die Schlagzeilen der deutschen Presse nach dem 4:1-Sieg der Löw-Truppe.
Und auch der Linienrichter von Wembley 1966 wird immer in Erinnerung bleiben. Das Nationalstadion Aserbaidschans, Heimatland von Tofiq Bahramov, wurde nach ihm benannt. Davor steht eine ihm gewidmete Statue, die 2004 von Geoff Hurst und FIFA-Präsident Sepp Blatter enthüllt wurde.
Obwohl das Wembley-Stadion 2003 abgerissen und neu erbaut wurde, lebt der Geist des von Sir Geoff Hurst erzielten Finaltors auf ewig weiter. Umso mehr, da seit der WM 2014 die Torlinientechnik „GoalControl“ zur technischen Ermittlung von Torentscheidungen eingesetzt wird. Daher wird es keine legendären Tore wie das Wembley-Tor von 1966 mehr geben, die Jahrzehnte langen Diskussionsstoff liefern. Der Mythos wird bestehen bleiben und Hans Tilkowski behält Recht: „Und ewig fällt das Wembley-Tor“.
Marius Funk und Jan Reusch
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