Dr. Svenja Wachsmuth ist Nachwuchsgruppenleiterin im Bereich „Sport Psychology und Sport Coaching“ am Institut für Sportwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. SportSirene-Redakteur Lennart Marten hat mit ihr über das Thema Mut aus Sicht der Sportpsychologie gesprochen.
Frau Wachsmuth, Sie sind Sportpsychologin. Was ist Mut aus psychologischer Sicht?
Es ist ein Handeln unter einer Bedrohung oder bei einer Unsicherheit. Dies bedeutet, aus der Komfortzone herauszukommen und trotz Angst oder Unsicherheit etwas zu machen, was mit einem persönlich bedeutsamen Ziel verbunden ist. Mut gibt es nicht ohne Risiko, Unsicherheit oder sogar Angst. Im Englischen liest man damit verbunden oft von Bravery und Courage. Mit Bravery ist hierbei die Tapferkeit gemeint, über einen längeren Zeitraum etwas durchzustehen – im Gegensatz dazu im Pendant zur Courage, in einem gewissen Moment eine Hürde zu überwinden.
Ist Mut angeboren?
Die Frage ist, ist Mut eine Persönlichkeitseigenschaft oder nicht? Wenn wir davon ausgehen, dass Mut eine Persönlichkeitseigenschaft ist, ist Mut zum Teil genetisch bedingt. Dieser Anteil ist jedoch nicht klar definiert. Auch bei anderen Persönlichkeitseigenschaften werden wir ganz maßgeblich von unserem Umfeld geformt. Da sind die Kindheit, Jugend und sogar das junge Erwachsenenalter sehr prägende Zeiten. Dies gilt wahrscheinlich auch für Mut. Unser Umfeld ist hierbei also essenziell wichtig. Zusammenfassend gibt es demnach einen angeborenen Anteil daran, wie bereitwillig wir Risiken eingehen, aber unser Umfeld spielt eben auch eine nicht zu verachtende Rolle.
In welchen Situationen im Sport spielt Mut eine Rolle?
Natürlich denken die meisten Menschen direkt an Extremsportarten. Aber Risikosportarten sind oftmals mit einer extrem hohen Selbstregulation verbunden. Das bedeutet, dass Risikosportler vielleicht eine höhere Risikobereitschaft haben, jedoch auch sehr kompetent sind in dem, was sie machen, und ihr Risiko sehr gut kalkulieren können. In der Regel sind das Personen, die ihre Emotionen im Griff haben, sich gut mental vorbereiten und präzise darauf hinarbeiten, eine Extremsituation bewältigen zu können. Wir verknüpfen Mut aber auch mit Erfolg. Ein Beispiel dafür sind Fußballspieler, die sich im WM-Finale getraut haben, einen Elfmeter zu schießen. Mut ist also auch, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, die mit einem Risiko einhergehen. Wenn diese Entscheidung dann gut gegangen ist, sprechen viele von einer mutigen Aktion. Aus sportpsychologischer Sicht ist die Entscheidung aber genauso mutig, falls die Entscheidung nicht erfolgreich endet. Dann erfährt die Entscheidung aber weniger Wertschätzung. Mut ist für mich als Sportpsychologin jedoch noch viel mehr: Wie gehe ich mit anderen um? Wie zeige ich mich selbst? Zeige ich Schwäche? Bin ich bereit, Fehler zu machen? Suche ich das schwierige Gespräch mit den Trainern und Betreuern? Kann ich Nein sagen, wenn mir zum Beispiel Doping angeboten wird? Mut bedeutet also, in einem sehr regulierten, hierarchisch-strukturierten Sportumfeld Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Das ist mutig!
Ist besonderer Mut für eine überdurchschnittliche Leistung notwendig?
Es ist auch möglich, überdurchschnittliche Leistungen zu erbringen, ohne besonders mutig zu sein. Auch wenn es notwendig ist für Spitzenleistungen aus der körperlichen Komfortzone herauszutreten, muss es auf der mentalen Ebene nicht immer „mutig“ sein – kann es aber. Interessant ist hier beispielsweise, dass viele Athleten durchaus auch Angst haben zu gewinnen. In diesem Fall wird Mut dann wichtig, um die eigene Leistung dann abzurufen, wenn es wichtig ist. Es ist sehr individuell und kontextabhängig, ob Mut für eine überdurchschnittliche Leistung notwendig ist. Nicht jede überdurchschnittliche Leistung benötigt Mut. Mut kann aber zu einer sehr wichtigen Variablen werden.
Kennen Sie einen außerordentlich mutigen Athleten, der anderen Sportlern als Vorbild dienen kann?
Es ist schwierig festzumachen, welche Sportler außerordentlich mutig sind. Sportler, die mir persönlich einfallen, sind Mary Cain, Serena Williams, Naomi Osaka, die iranische Fußballnationalmannschaft, Whistleblower im Doping und die iranische Kletterin Elnaz Rekabi. Hierbei geht es mir nicht um die sportliche Leistung, sondern um das, was sie durch ihren Sport zeigen und bewirken können.
Sie betreuen als Sportpsychologin auch Athleten im Para-Sport. Wie unterscheiden sich Para-Sportler von anderen Sportlern hinsichtlich des Muts? Bedeutet im Para-Sport Mut etwas Anderes?
Wenn es um den Sport geht, unterscheiden sie sich nicht. Para-Sportler haben die gleichen Herausforderungen. Es geht ums Gewinnen oder Verlieren, aus der Komfortzone herauszukommen und besser zu werden. Die Grundkompetenzen aus sportpsychologischer Sicht bleiben die gleichen. Was wir anpassen müssen, sind unsere Werkzeuge und Strategien, mit denen wir arbeiten. Neben dem Leistungsaspekt gibt es sicherlich aber noch andere Herausforderungen. Beispielsweise könnte es einen Unterschied darin geben, wieviel Mut erforderlich ist, in den Sport hineinzugehen. Herausfordernd hierbei könnte es sein, sich in einem Feld zu bewegen, in dem der leistungsfähige Körper zentral ist – Sportler mit Behinderung könnten befürchten, zunächst ausgegrenzt beziehungsweise nicht als Teil der Gruppe angesehen zu werden. Einige Para-Athleten, mit denen ich arbeite, sind auch in den regionalen Ligen des Regelsports unterwegs. Das heißt, das Umfeld könnte dazu führen, dass sie in manchen Situationen mehr Mut brauchen, sich und ihre sportlichen Fähigkeiten zu zeigen.
Kann man Mut trainieren?
Ich bin mir nicht sicher, ob ich explizit Mut trainieren würde – das ist sehr abstrakt. Mein Ansatz ist es, mittels Mindfulness Acceptance Commitment Training verschiedene Dinge zu trainieren, wie zum Beispiel sich seiner selbst bewusst zu sein und Emotionen wie Angst, Unsicherheit oder Frustration auszuhalten. Mut hat auch viel mit Haltung zu tun. Was ist wichtig? Was sind meine Ziele? Was sind meine Werte hinter den Zielen? Daraus Motivation und Leidenschaft zu entwickeln, das sind die Dinge, die trainierbar sind. Die richtigen Verhaltensschlüsse daraus zu ziehen und umzusetzen, verlangt Mut.
Wie würde ein Training diesbezüglich aussehen?
Was Sportler trainieren können, ist Fehler zu machen. Ich gehe in schwierige Situationen und bewege mich bewusst in einem Terrain, in dem ich regelmäßig Fehler mache und mich trotzdem – oder gerade deswegen – entwickle. Eine weitere Möglichkeit ist es, mit Triggern beziehungsweise Remindern zu arbeiten. Ich habe früher ein Gummiband am Handgelenk gehabt. Wenn ich Angst hatte, habe ich das kurz geschnipst, um mir zu signalisieren, endlich loszulegen. Diese Trigger bringen allerdings nichts, wenn es kein Ziel vor Augen gibt und man nicht weiß, wie mit einer Situation umzugehen ist. Es ist sozusagen ein Werkzeug hinter der Haltung, die jeder entwickeln muss.
Wie können Sie als Sportpsychologin Athleten in konkreten sportlichen Situationen bei Mutlosigkeit unterstützen?
Wir Sportpsychologen sind oft in den wichtigen Situationen gar nicht dabei. Selten stehen Sportpsychologen am Rande der Matte oder des Spielfelds. Die Arbeit muss vorher getan werden. Nehmen wir an, eine Person steht in einem Finale. Was ist die Konsequenz, wenn dieses verloren geht? Oder eine Turnerin hat Angst, vom Schwebebalken runterzufallen. Wie oft ist das schon passiert? Solche Situationen können rational eingeordnet werden: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wirklich etwas Schlimmes passiert? Möglicherweise fällt die Person herunter und es tut weh, aber weiter geht’s. Sportpsychologische Unterstützung als „Feuerwehr“ bringt jedoch kurz vor einem Wettkampf meistens nichts, weil Sportler dann meistens schon emotional getriggert sind. In einer Wettkampfsituation ist es hilfreich, sich selbst daran zu erinnern: Was sind meine Werte, was sind meine Ziele und weshalb mache ich das Ganze? Des Weiteren ist es möglich, zum Beispiel über Atemregulation oder Strategien zur Aufmerksamkeitssteuerung Emotionen und Konzentration zu managen.
Sie haben sich intensiv mit psychosozialen Faktoren der Talententwicklung auseinandergesetzt. Inwiefern können diese Faktoren den Mut bei jungen Sportlern beeinflussen?
Das Umfeld ist maßgeblich entscheidend, vor allem im Nachwuchsbereich. Damit ist nicht nur das aktuelle Umfeld gemeint, sondern auch das, in dem die Talente groß geworden sind. Hierbei ist entscheidend, wie Trainer, Mitspieler oder auch die Eltern mit Druck umgehen beziehungsweise woraus sie Druck entwickeln und wie sie Fehlern begegnen. Ein Problem des sportlichen Umfelds in Nachwuchsleistungszentren beispielsweise ist nach wie vor, dass Trainer auch abhängig von den Leistungen der Kinder sind. Die Konsequenzen, die durch Misserfolg möglicherweise entstehen, können sowohl für die Kinder als auch für das Umfeld schlimm sein. Misserfolg kann zum Beispiel finanzielle Konsequenzen, für den Trainer auch berufliche Konsequenzen haben. Dadurch entsteht eine Unsicherheit im Sportsystem, die sich dann wieder auf Nachwuchssportler überträgt. Dort ist der Ansatzpunkt. Wie schaffe ich es als Trainer, im Betreuerstab oder als Eltern, ein sicheres Umfeld zu kreieren, in dem es in Ordnung ist, Fehler zu machen? Damit sind Fehler gemeint, die Talente im Rahmen des Lernens, der Weiterentwicklung und der bedachten Risikobereitschaft begehen und eben auch begehen dürfen. Ohne dieses Umfeld wird später niemand mutig sein, da alle versuchen, Fehler zu vermeiden.
Viele Sportler haben im Lauf ihrer Karriere mit schweren Verletzungen zu kämpfen. Wie stark beeinflussen psychologische Faktoren wie Mut den Weg zurück in den Leistungssport?
Mutig ist es, auf seinen eigenen Körper zu hören, den Körper zu kennen und mit kalkuliertem Risiko an Grenzen zu gehen. Nachdem man einen Unfall oder eine Verletzung hatte, besteht natürlich eine Angst, den Körper wieder zu belasten. Da ist Mut schon wichtig. Es braucht sehr viel Mut, sich dann wieder in potentiell risikobehaftete Situationen zu begeben. Dort können Sportpsychologen Hilfe leisten und die Person auf den Wiedereinstieg vorbereiten. Athleten brauchen aber vor allem auch Ruhe und Zeit, um sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen und zu erholen.
Gibt es für Sie auch Übermut im Sport?
Ja, ich glaube, dass es Übermut gibt. Da stellt sich auch die Frage nach Naivität oder mangelnde Kompetenz. Denn wenn die Risiken nicht abschätzbar sind, braucht es wahrscheinlich auch weniger Mut – man weiß ja nicht, worauf man sich einlässt. Zum anderen gibt es vielleicht noch Übermut im Sinne einer Übermotivation – man will etwas ganz Besonderes erreichen und geht deshalb eventuell ein zu hohes Risiko ein.
Was war das Mutigste, das Sie jemals im Sport getan haben?
Als ich mit achtzehn Jahren von einer zwanzig Meter hohen Klippe gesprungen bin. Das war damals mutig, rückblickend aber eigentlich dumm. Damals konnte ich die Risiken nicht abschätzen. Klar hat das Mut gefordert, aber wahrscheinlich war es purer Übermut.
- „Mut hat auch viel mit Haltung zu tun“ - 22. April 2023
- „Mit acht Jahren habe ich alles aufgegeben, um mein Ziel zu erreichen“ - 25. März 2023