Viele Menschen träumen von Schwerelosigkeit und dem Gefühl des Fliegens. Daher hat sich Gleitschirmfliegen in den vergangenen Jahren immer mehr zu einer Trendsportart entwickelt. Doch wie ist das Gefühl des Fliegens und die Faszination dahinter wirklich?
Der Schirm breitet sich hinter einem aus. Drei schnelle Schritte noch, dann ist man in der Luft. Die Erde unter einem wird immer kleiner und der Wind pfeift in den Ohren. Ungefähr so läuft der Start bei einem Gleitschirmflug ab. Einem Sport, bei dem man die Erde nur noch aus der Vogelperspektive wahrnimmt. „Das ist die Freiheit. Du läufst irgendwo hoch, breitest deine Flügel aus und fliegst“. So beschreibt Rainer Scheltdorf das Gefühl des Fliegens. Als Fluglehrer und Mitgründer der Flugschule „Vogelfrei“ in Oberstdorf im Allgäu führt er diesen Sport seit 1993 hauptberuflich aus. Nachdem er neun Jahre lang als Vollzeitfluglehrer gearbeitet hatte, widmete er sich Anfang der 2000er als eine der ersten Personen in Deutschland dem Tandem-Fliegen. 2001 erzielte er mit der ersten Tandem-Alpenüberquerung vom Nebelhorn in Oberstdorf bis nach Südtirol einen deutschen Rekord und entschied sich daraufhin eine Ausbildung als Tandem-Fluglehrer zu machen, um das Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit beim Fliegen an andere Personen weiterzugeben. Bereits als Kind kam er durch seinen Onkel, der Drachenflieger war, in Berührung mit dem Flugsport. „Ich habe oft zugeschaut und gedacht: einfach selbst mal runterfliegen, das wäre es jetzt“. Diesen Traum hat er sich im Jahr 1991 dann erfüllt und verbrachte von da an die meiste Zeit in der Luft. „Ich bin bei jedem Flugfenster, wo es ging, fliegen gegangen. Es gab nichts anderes mehr. Es ist einfach etwas so Mächtiges.“
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dabei unter anderem Spanien und Brasilien (Foto © Rainer Scheltdorf)
Dieses Gefühl treibt seit den Anfängen des Sports im Jahr 1965 immer mehr Menschen an sich dem Flugsport zu widmen. Aktuell meldet der Deutsche Gleitschirm- und Drachenflugverband (DHV) ca. 39.000 Mitglieder in knapp 320 Vereinen, wovon die meisten in Bayern und Baden-Württemberg leben. Doch nicht nur die Zahl der aktiven Pilot:innen steigt, sondern auch die Anzahl an Passagier:innen, die einen Tandemflug buchen: „Als Fluglehrer fliegt man bei uns rund fünf bis sechs Passagiere am Tag“, berichtet Scheltdorf.
Franziska Staab machte 2019 anlässlich des Hochzeittages ihrer Eltern zusammen mit ihrer Familie einen Tandemflug im Allgäu. Extremsportarten wie Bungee Jumping oder generell der Flugsport haben die 19-Jährige schon immer fasziniert, weswegen sie sich auch für den Gleitschirmflug entschieden hat. Das Erlebnis beginnt dann meist nicht erst bei Abflug, sondern schon davor in der Bergbahn oder beim Hochlaufen auf den Berg mitsamt des rund 14 Kilogramm schweren Tandemschirms. „Ich dachte auf halber Strecke, ich bekomme den Rucksack da niemals hoch“, berichtet Franziska Staab. Oben angekommen wird der ca. 40 Quadratmeter große Schirm ausgebreitet, man steigt in den Sitz und alle Seile werden überprüft und am Sitz befestigt. Nach einer kurzen Einweisung des Fluglehrers kann das Abenteuer dann losgehen. „Ich war total aufgeregt und hatte Angst, dass etwas schief geht oder ich etwas falsch mache“, erzählt Staab. Denn tatsächlich gehören beim Start viel Überwindung und Mut dazu. „Es geht nicht nur darum, dass man plötzlich den Boden unter den Füßen verliert, gerade bei einem Tandemflug muss man sich stark auf das Gefühl einlassen können und die Kontrolle abgeben. Für viele ist das ein sehr mutiger Schritt“, erklärt Scheltdorf. Hat man diesen Mut einmal aufgebracht, ist man nach wenigen schnellen Schritten, bei den man das Gefühl hat, man wird immer leichter, auch schon in der Luft. Genau das beschreibt Rainer Scheltdorf als „Wahnsinnsgefühl“: „Das erste Mal Abheben ist ein erhabenes Gefühl. Dieser letzte Schritt und dann das Freie“.
Beim Flug selbst ist man der Natur so nah, wie sonst nur sehr selten. „Man fühlt sich so wie man sich vorstellt, dass Vögel fliegen. Allein die Tatsache, dass da oben nicht viele Menschen sind, man hört nur den Wind, da sind die Vögel und die Natur“, erzählt Franziska Staab von ihren Gedanken und Gefühlen während des Fluges. Das ist häufig auch die Ursache für das Freiheitsgefühl beim Fliegen. Anders als beim Wandern oder Bergsteigen, hat man kein festes Ziel, wie den Gipfel des Berges zu erreichen, sondern bewegt sich in einem dreidimensionalen Raum mit Platz in jegliche Richtung. Für viele setzt dann viel zu schnell die Landung ein. Mit einem Kribbeln im Bauch und meist vielem Schaukeln erreicht man wieder den Boden. „Ich konnte an gar nichts denken und musste den Flug erstmal verarbeiten“, berichtet Franziska Staab. Diesen Gedanken kann Scheltdorf, der hinter seinem Beruf als Fluglehrer auch eine psychologische Aufgabe sieht, nur bestätigen. „Der letzte Schritt vor dem Abflug ist für viele lebensverändernd. Ich habe viele Passagiere mit Schicksalsschlägen, die mit einem Lebensabschnitt abschließen wollen und eine neue Tür aufmachen. Meistens kommt es dann vor, dass man eine Stunde geflogen ist und auf dem Boden dann noch fünf Stunden quatscht“.
„Ich würde es direkt nochmal machen!“. So geht es nach der Landung nicht nur Franziska Staab, sondern auch vielen anderen Menschen. Scheltdorf berichtet immer wieder, dass das Fliegen für viele Menschen einen gewissen Suchtfaktor hat und man das Gefühl am liebsten immer wieder erleben will. Oftmals ist dies auf Grund der hohen Kosten jedoch nicht möglich. Der Preis für einen Tandemflug als Passagier:in beginnt bei den meisten Flugschulen bei ca. 150 Euro und auch die Ausbildungen, die als Voraussetzung für das eigene Fliegen absolviert werden müssen, sind sehr teuer.
Erscheint das Gefühl des Fliegens doch so schön, darf man die damit verbundenen Risiken nicht vernachlässigen. Oberstes Gebot sind dabei gute Kenntnisse über Thermik, das Material und die Wetterlage. Auch wenn das Gleitschirmfliegen als sicherste Luftsportart gilt, ist es wichtig die Gefahren zu kennen. „Ganz ausblenden darf man die Risiken nicht. Es ist ja auch richtig, dass die Gefahr mitfliegt, das macht einen wach und man wird sensibler für Wetterveränderungen“, erklärt Scheltdorf. Wetter- beziehungsweise Windveränderungen sind die größten Gefahren im Flugsport. So sind in Deutschland von jährlich ca. 100 gemeldeten Unfällen mit Verletzten und neun tödlichen Unfällen, die meisten auf Fehleinschätzungen des Wetters zurückzuführen, indem man abtreiben oder den Schirm nicht mehr kontrollieren kann. „Ich habe schon viele Unfälle mitbekommen und hatte selbst auch zwei, aber ich würde es nicht als gefährlich beschreiben. Für mich ist eine Stunde auf der Autobahn gefährlicher als zehn Stunden fliegen“, erzählt Rainer Scheltdorf. Tatsächlich gelten die Gleitschirme als außerordentlich sicher, da jedes Bauteil des Schirms das Achtfache der maximalen Belastung aushalten kann und aufgrund der eher langsamen Geschwindigkeiten die Unfallgefahr im Vergleich zu anderen Luftsportarten, wie Segelfliegen oder Motorfliegen, sehr gering ist.
Seit einigen Jahren hat sich das Gleitschirmfliegen aufgrund der verschiedenen Facetten und der vermeintlichen Einfachheit zu einer Trendsportart entwickelt. Egal, ob es das einmalige Erlebnis eines Tandemflugs ist oder das nahezu alltägliche Hobby, jeder macht seine ganz eigenen Erfahrungen. „Einfach die Flügel aufmachen und fliegen. Darum hat mich das auch so gekickt, diese Einfachheit“, beschreibt Rainer Scheltdorf das Phänomen des Fliegens.
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- „Einfach die Flügel aufmachen und fliegen“ - 5. Mai 2023