„Wir waren zu Tode erschöpft und einfach nur glücklich, überlebt zu haben.“ 28 Tage lang war Roland Votteler am Eiger unterwegs. Er und sein Team wurden von starken Stürmen und Temperaturen bis zu minus 30 Grad auf der Route begleitet. Tagelang verharrten sie im Eis. Heute spricht der Alpinist fast schon nüchtern über seine Zeit als Ausdauersportler, wie der Sport sein Leben prägte und was Risiko für ihn bedeutet.
Votteler kann auf eine lange Sportkarriere zurückblicken. Der 77-jährige gebürtige Mainzer betreibt seit 58 Jahren Sport: von Boxen über Fußball bis zum Marathon und zu Extremsportarten wie Gleitschirmfliegen. Dennoch fesselte ihn keine Sportart so sehr wie das Bergsteigen.
Der Rentner sitzt in seinem Wohnzimmer und erzählt über sein Leben als Sportler. Seine Augen funkeln unter der silbernen Brille. Die Haare sind grau und die Haut ist gezeichnet vom Leben. Strahlend berichtet er über seine Bergsteigerkarriere.Angefangen hat alles 1960 mit einer Klettertour an den Wackerstein am Albtrauf der Schwäbischen Alb. Der 18-Jährige, damals voller Elan und Tatendrang wurde von einem Kletterer des Deutschen Albvereins mitgenommen. Zusammen bezwangen sie die 20 m hohe Wand mit einem Schwierigkeitsgrad von 4. Beim Klettern reichen die Schwierigkeitsgrade von 2a bis 9c, wobei 2a als sehr leicht und 9c als sehr schwierig gilt. Er selbst sagt lächelnd: „Das war der Start meiner Kletterkarriere.“ Es folgten weitere Touren bis zum obersten Schwierigkeitsgrad. Zu den Bergen, die Roland Votteler bezwungen hat gehören unter anderem der Mont Blanc, das Matterhorn und der Grandes Jorasses. Sein größter Erfolg beim Bergsteigen: „Ich war in den 60er Jahren in den schwersten Touren in den Alpen erfolgreich unterwegs ohne Sturz oder Verletzung.“ Außerdem hatte er, wie er betont, „immer die Unterstützung von einem Quäntchen Glück.“
Der Weg nach oben, durch Felsen, Eis oder Schnee – das Ankommen und das Gefühl, es geschafft zu haben, bewegten ihn. Er suchte sich nie die leichten Routen aus. Der Schwierigkeitsgrad und die Routenführung trieben ihn voran.
Bei allen Touren hat die Route am Riesen der Berner Alpen, dem Eiger, zumindest körperlich den größten Eindruck hinterlassen. Bei dem Durchstieg der gigantischen Eiger-Nordwand ging der damals 20-Jährige an seine Grenzen. Bei der Direttissima Route am Eiger startete außer dem deutschen Team mit Roland Votteler auch ein amerikanisch-englisch-schottisches Team. Dieses Team wurde durch John Harlin angeführt. Von der Presse als Wettkampf aufgezogen, kletterten jedoch beide Teams zusammen. Als sich ein Hilfsseil am Felsen aufscheuerte, verunglückte der Kapitän des amerikanisch-englisch-schottischen Teams tödlich. Votteler war zu diesem Zeitpunkt zwei Mann vor Harlin. „Es hätte auch mich treffen können“, der Alpinist hatte bereits gesehen, dass sich der Mantel des Seils geöffnet hatte, dies sei aber nicht ungewöhnlich. „Das Ziel war der Gipfel“, darum entschieden sich die beiden Gruppen, dass der Teil, der über der Absturzstelle war, weiter aufsteigt. Der Teil unter dem Unfallort trat die Heimreise an. Es war Zufall, dass Votteler im oberen Teil war. So gesellte sich zu dem deutschen Team ein Mitglied des amerikanischen Teams dazu. Da er Harlin nicht näher kannte, änderte der Absturz für Votteler nichts. „Es wäre anders gewesen, wenn es jemand aus unserem Team getroffen hätte.“ Als „Ansichtskarte“, wie er es ironischerweise nennt, blieb dem Alpinisten der Verlust von neun Zehen. Diese froren ihm bei den eisigen Temperaturen ab. „Ich war nur erschöpft und glücklich, überlebt zu haben“, erklärt der Extremsportler. Den Verlust der Zehen belächelt er beinahe: „Es gibt Schlimmeres.“
Schon als kleiner Junge wollte Votteler Sport treiben. Damals fehlte ihm jedoch das nötige Geld, um sich Sportkleidung leisten zu können. Er wuchs in sehr armen Verhältnissen auf. Später, als er in einer Eisengießerei arbeitete und das verdiente Geld für eine Kletterausrüstung ausgab, waren seine Eltern nicht begeistert. „Sie wussten nicht, dass ich klettern gehe, ich habe immer gesagt, ich bin beim Wandern.“ Der Alpinist schmunzelt. Er wollte seinen Eltern die Sorgen ersparen, da er sich bei einer seiner ersten Touren verletzt hatte.
Geboren ist Roland Votteler 1942 in Mainz am Rhein. 1944 zog er mit seinen drei Brüdern und den Eltern zur Großmutter nach Reutlingen. Hier lernte er seine Frau Margot kennen, zusammen bekamen sie 1976 die Zwillinge Meike und Tim. „Ich hatte die volle Unterstützung meiner Freundin und späteren Frau, auch wenn sie selbst nicht im extremen Bergsport unterwegs war“, sagt der begeisterte Bergsportler. Oft ist er freitags direkt nach der Arbeit zum Berg gefahren, um noch nachts den Aufstieg an den Wandfuß und beim ersten Tageslicht den Einstieg und Durchstieg des Bergs zu machen. Und das alles, um Sonntagmorgen pünktlich zum Frühstück wieder daheim bei der Familie zu sein. Auch der Urlaub und der Beruf, den er viermal wechselte, wurde auf das Bergsteigen ausgelegt. Seine Zeit strukturierte sich der Alpinist so, dass er vormittags in den Bergen sein konnte und nachmittags Zeit mit seiner Familie verbrachte. Zuletzt arbeitetet Roland Votteler im Management eines Schrottplatzes.
Auf die Frage, was Risiko in Bezug auf den Bergsport für ihn bedeutet, atmet der Extremsportler tief durch und entgegnet: „Risiko war mein ständiger Begleiter und gehört zum Bergsteigen dazu.“ Dennoch gilt es, das Risiko zu minimieren – durch eine sorgfältige Vorbereitung und Ausbildung. Auch Respekt vor dem Berg und die richtige Selbsteinschätzung gehören dazu. Er suchte sich nur Touren aus, die für ihn machbar waren, er überschätzte sein Können niemals. „Mit 18 Jahren war man gefühlt unschlagbar und unsterblich; das Thema Risiko war nicht so bedeutend.“ Rückblickend hätte er kaum etwas anders gemacht. „Insgesamt war ich 28 Jahre begeistert im Bergsport unterwegs, mit wenigen Momenten, in denen ich meine Zweifel hatte.“ Tragische Unfälle von Kletter-Kollegen ließen den Alpinisten nachdenklich werden, dennoch war die Faszination des Bergs zu groß.
Nachdem er 1988 mit dem Klettern aufgehört hat, begann er Marathon zu laufen und nahm an Duathlons teil. Teilweise lief er bis zu fünf Marathons in einem Jahr und das mit nur einem Zeh. Ab seinem 50. Lebensjahr hatte er deutliche körperliche Probleme durch den „Raubbau“, den er mit seinem Körper betrieben hatte. Mehrere Bandscheibenvorfälle plagten ihn. Dennoch ist Roland Votteler bis heute ein (Ausdauer-)Sportler. 2013 hat er mit dem Mountainbiken begonnen, um wieder etwas Neues zu machen. Auch um sich fit zu halten, der Sport spielt immer noch eine große Rolle in seinem Leben. „Es ist niemals zu spät, um etwas Neues anzufangen“, beteuert Roland Votteler. 2017 ist der 77-Jährige auf ein E-Bike umgestiegen. Bis zu 1000 Kilometer im Jahr ist er unterwegs. „Ausdauersport ist mein Lebenselixier“, sagt er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
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- „Risiko war mein ständiger Begleiter“ Ein Portrait über Roland Votteler von Anke Gallistl - 10. März 2020