Fußball-Schiedsrichter setzen sich besonders in den unteren Amateurligen Woche für Woche enormen Risiken aus. Oft entscheidet der Pfiff des Unparteiischen lediglich darüber, von welchem Team er mit Beleidigungen, Androhungen oder Gewalt zu rechnen hat. Welche Auswirkungen hat das auf die Schiedsrichter?
Schiedsrichter David Modro bläst dreimal kräftig in seine Pfeife – Abpfiff. Während es für gewöhnlich nun zum Shakehands zwischen Spielern und Schiedsrichter kommt, muss der 25-jährige Modro am 29. Oktober 2018 von Ordnern in die Kabine eskortiert werden.
Vorausgegangen ist das Landesligaspiel SV Allmersbach gegen den TV Oeffingen. In dem hitzigen Nachbarschaftsduell sieht sich Modro mit vielen engen Szenen konfrontiert. Spieler des TV Oeffingen hadern mit den Entscheidungen des Unparteiischen und beschweren sich mit zunehmender Spieldauer immer energischer. Der Spielverlauf tut sein Übriges – kurz vor Schluss steht es 3:2 für die vermeintliche schwächere Heimmannschaft aus Allmersbach. Angefressen und der drohenden Niederlage trotzend, stürmt der TV Oeffingen in den letzten Minuten noch einmal nach vorne. Ein Spieler setzt im Sechzehner zum Schuss an und wird mit einem Tackling gestoppt. Die Gäste wollen ein Foulspiel gesehen haben, Schiedsrichter Modro entscheidet auf Stürmerfoul. Nur eine Minute später kommt es zu einem vermeintlichen Handspiel des SV Allmersbach im eigenen Sechzehner – erneut bleibt der Elfmeterpfiff für die Oeffinger aus.
Das Spiel endet 3:2. Spieler und Zuschauer des TV Oeffingen fühlen sich zwei Elfmetern beraubt und toben in Richtung Schiedsrichter Modro. Die Ordner der Heimmannschaft sehen sich gezwungen, den Unparteiischen auf dem Weg in die Kabine zu begleiten. „Nach solchen Spielen sind wir Schiedsrichter froh, wenn Ordner da sind, die uns vor pöbelnden Zuschauern oder Funktionären auf dem Weg in die Kabine begleiten“, berichtet Modro. Dass Ordner sich um die Unversehrtheit des Schiedsrichters kümmern müssen, ist nicht die Regel. Dennoch machen es erschreckende Einzelfälle zur unabdingbaren Pflicht.
Seit 2009 ist David Modro, der hauptberuflich als IT/Content-Spezialist tätig ist, aktiver Schiedsrichter. „Ich ging fast jeden Sonntag auf den Fußballplatz, um die Spiele der ersten Mannschaft der TSG Leonberg anzuschauen. Dabei durfte ich jedes Mal als Vereinsschiedsrichterassistent die Fahne heben“, beschreibt er seine ersten Schritte. Ein Funktionär des Vereins sprach den damals 14-Jährigen auf einen Schiedsrichter-Neulingskurs an. Dieser begeisterte den jungen Modro so sehr, dass er bald darauf das Fußballspielen aufgab und sich voll und ganz dem Schiedsrichter-Dasein widmete. Der aufstrebende Unparteiische lernte schnell und stieg schon als 19-Jähriger in die Landesliga auf.
Inzwischen zählt Modro, der für die Schiedsrichter-Gruppe Leonberg aktiv ist, über 900 geleitete Spiele. „Die meisten davon laufen harmonisch ab“, erzählt er. Wenn er sich doch einmal mit einem aggressiven Spieler konfrontiert sieht, ist für ihn vor allem ein gewisses Maß an Menschenkenntnis entscheidend. „Manche können durch ein Lächeln und Verständnis beruhigt werden, Anderen müssen ihre Grenzen durch Disziplinarstrafen und ein paar schärfere Worte aufgezeigt werden“. Damit es erst gar nicht zum tätlichen Übergriff auf den Schiedsrichter kommt, wahrt der 25-Jährige immer eine gewisse Distanz. „Wenn ich die Spieler duze und bei jeder Gelegenheit anfasse, darf ich umgekehrt nicht erwarten, dass die Spieler den notwenigen Abstand einhalten“, so Modro. Mit eindeutigen Zeichen, wie dem „Stopp-Signal“, bei dem der Schiedsrichter mit ausgestrecktem Arm Abstand vom Spieler einfordert, könne man frühzeitig reagieren.
Auch für Dr. Thaya Vester spielt der Abstand eine zentrale Rolle in der Gewaltprävention. Die 37-jährige Wissenschaftlerin vom Institut für Kriminologie der Universität Tübingen hat die deutschlandweit bislang einzige Langzeitstudie zum Thema Sicherheitsgefühl und Opferwerdung von Unparteiischen im Amateurfußball verfasst. Durch eine größere Distanz zwischen Schiedsrichter und Spieler könne das Risiko einer unüberlegten Aktion der Spieler verringert werden. Sieht ein Spieler beispielsweise die rote Karte und will daraufhin auf den Schiedsrichter losgehen, könnten ein paar Meter Abstand mehr entscheidend sein. „Wenn der Spieler zehn Schritte gehen muss, um den Unparteiischen zu erreichen, besteht eine größere Chance, dass andere Spieler genügend Zeit haben, ihn aufzuhalten“. Zudem hätte der Spieler selbst mehr Zeit, um zu überlegen, auf welche Weise er handelt.
Schiedsrichter werden in der Ausbildung und in fortlaufenden Lehrgängen durch Rollenspiele auf Konfliktsituationen vorbereitet. Anfängern stehen in den ersten Spielen erfahrene Schiedsrichtern zur Seite, die mit ihnen nach Schlusspfiff die im Spiel aufgetretenen Konflikte besprechen.
Nicht immer gelingt es jedoch, dass wie im Fall von David Modro Ordner zur Stelle sind und den Schiedsrichter schützen. In der Saison 2018/2019 registrierte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) 2.906 Attacken auf Schiedsrichter. Fälle wie in Münster, wo der Unparteiische Nils Czekala von einem Spieler bewusstlos geschlagen wurde, sorgen bundesweit für Aufmerksamkeit. Trotz des Risikos fühlen sich die Unparteiischen in ihrem Amt nicht unsicher, sagt Vester, die Mitglied in der Arbeitsgruppe „Fairplay & Gewaltprävention“ des DFB ist. Das Sicherheitsgefühl unter Schiedsrichtern sei sehr gut. Nur Menschen, die von Grund auf über ein großes Selbstbewusstsein verfügen, würden überhaupt in das Amt einsteigen und sich auch dementsprechend sicher fühlen.
Zu diesen gehört auch David Modro. „99 Prozent aller Spiele verlaufen ohne große Zwischenfälle. Häufig wird es in den Medien so dargestellt, als würden diese – sehr wohl schlimmen Einzelfälle – den Amateurfußball in der Breite widerspiegeln“, relativiert der Schiedsrichter. Denn tatsächlich ist die Anzahl von tätlichen Übergriffen auf Amateurplätzen sogar gesunken. Während in der Saison 2012/2013 auf 10.000 Spiele 65 tätliche Übergriffe kamen, lag die Zahl zur Saison 2016/2017 bei 58. Die aktuell große Präsenz des Themas liegt laut Modro vor allem am gestiegenen Medienecho der Einzelfälle.
„Die Zuschauer schaukelten sich gegenseitig in eine Art Beleidigungsrausch“
Wenn von Gewalt gegen Schiedsrichter gesprochen wird, darf jedoch nicht nur der physische Aspekt beachtet werden. Auch Beleidigungen und Androhungen sind zu berücksichtigen. David Modro berichtet von einem Spiel, bei dem er eine vermeintliche Abseitsstellung übersah, die zu einem Tor der Gastmannschaft führte. Daraufhin kippte die Stimmung bei den Fans der Heimmannschaft. Bei jeder Aktion versuchten sie, vom Spielfeldrand aus Einfluss zu nehmen. Beschimpfungen waren über den gesamten Sportplatz zu hören. „Die Zuschauer schaukelten sich gegenseitig in eine Art Beleidigungsrausch“, erzählt Modro. Als sich der Unparteiische im Anschluss an das Spiel auf den Heimweg machen wollte, fingen ihn einige Zuschauer der Heimmannschaft im Dunkeln an seinem Auto ab und drohten ihm Gewalt an. Glücklicherweise blieb es bei der Drohung und Modro konnte unversehrt den Heimweg antreten.
Bedenklich: Beleidigungen und Androhungen gegenüber Schiedsrichtern spiegeln sich nur geringfügig in Statistiken wider. Weil nur ein kleiner Anteil aller Beleidigungen gegenüber den Unparteiischen dem Verband gemeldet werde, gebe es eine große Dunkelziffer, erklärt Dr. Thaya Vester. „Schiedsrichter sortieren vorher schon aus, welche Beleidigungen sie im Anschluss an das Spiel melden“, so die Wissenschaftlerin. Somit würden nur die schlimmsten Beleidigungen vermerkt. „Viele Schiedsrichter melden Beleidigungen nicht, weil sie sich davon persönlich nicht angegriffen fühlen oder sie vermuten, dass es seitens des Verbands ohnehin keine Sanktionen gäbe“, führt sie weiter aus. Ohne eine Meldung kann der Verband jedoch nicht handeln. Ein Zustand, der sich laut Vester ändern muss, damit deutlich wird, was sich auf deutschen Amateur-Sportplätzen abspielt.
Besonders der niedrige Amateurbereich birgt ein Risiko für die Unparteiischen. „In den Ligen, in denen man nicht absteigen kann, kommt es am häufigsten zu Übergriffen und Beleidigungen“, so Vester. „Spieler aus den Kreisligen haben eine viel geringere Hemmschwelle, da die Konsequenzen für sie nicht so einschneidend sind wie für höherklassige Fußballer“, erläutert Vester. Spieler im Halbprofi- und Profibereich würden ein sehr viel größeres Medienecho erfahren und unter Umständen ihre Karriere in Gefahr bringen. „In höheren Spielklassen geht es meist gesitteter zu“, beobachtet auch Modro, der bis zur Landesliga pfeift und bis zur Oberliga als Assistent tätig ist. In den unteren Spielklassen komme es häufiger vor, dass die Spieler ihr fußballerisches Unvermögen am Schiedsrichter auslassen.
„Der Schiedsrichter ist kein Feind der Spieler“
Die gewalttätigen Übergriffe auf Unparteiische gefährden auch die Existenz des Amtes. Modro, der im Ausschuss der Schiedsrichtergruppe Leonberg für die Schiedsricher-Förderung und Organisation von Neulingskursen zuständig ist, bekommt dies deutlich zu spüren. „Die Vereine und wir als Schiedsrichtergruppe finden immer weniger potenzielle Kandidaten für die Neulingskurse“, beklagt er. Die Gewalt schrecke jüngere Menschen, aber vor allem auch deren Eltern ab. Verbale Entgleisungen von Zuschauern und Eltern führten zudem dazu, dass jüngere Unparteiischen ihre Tätigkeit schnell wieder aufgäben. Auch der DFB nimmt diese Entwicklung wahr. Während im Jahr 2011 noch 71.521 Unparteiische aktiv waren, sind es 2019 nur noch 56.680. Läuft das so weiter, dauert es noch etwa 30 Jahre, bis der letzte Schiedsrichter sein Amt niederlegt – ein Schreckensszenario, was zu bedenken geben sollte.
Um dem entgegenzuwirken, fordert David Modro ein Umdenken bei all jenen, die am Wochenende auf die Sportplätze kommen, um ihre Aggressionen rauszulassen und Menschen zu beschimpfen. „Anderen Menschen körperliches und seelisches Leid zuzufügen, sollte out sein und von der fußballbegeisterten Gesellschaft entschieden abgelehnt werden“, so Modro. Gewalt dürfe nicht salonfähig sein. Ansichten, die auch Dr. Thaya Vester teilt. „Der Schiedsrichter ist kein Feind der Spieler. Man sollte fünf Schritte zurückgehen und sich vor Augen führen, dass Fußball nur eine Sportart ist und der Schiedsrichter nur ein Sportsmann, der das Spiel überhaupt erst ermöglicht“.
Ein Denkanstoß für jeden, der am Wochenende auf den Sportplatz kommt, um Fußball zu spielen oder seine Mannschaft zu unterstützen. Diesen Personen muss bewusst sein, dass sie mit ihrem Handeln die Zukunft des Fußballs mitgestalten – und ohne Schiedsrichter ist diese nicht vorstellbar.
Sebastian Winter