„Die Menschlichkeit muss wieder wichtiger werden“
Justus Strelow ist Sportsoldat und Biathlet. Der in Oberhof lebende Sachse geht in der zweithöchsten internationalen Wettkampfklasse, dem IBU-Cup, an den Start. Zu seinen bisher größten Erfolgen gehören ein dritter Platz im IBU-Cup im Dezember 2018 und die Silbermedaille in der Single-Mixed- Staffel bei den Europameisterschaften in Minsk im März 2020. Im Interview betont Justus Strelow, wie wichtig die Menschlichkeit in der Gesellschaft sowie in der Politik ist, auch und gerade in Europa.
Gastbeitrag von Marie Herklotz und Luisa Fischer (HS Fresenius Heidelberg)
Herr Strelow, welche Einschränkungen hatten Sie beim ersten Lockdown während der Coronakrise im Frühjahr 2020?
Noch bevor der offizielle Lockdown ausgerufen wurde, hatten wir die Nachricht erhalten, dass die Kaserne zunächst für einen unbekannten Zeitraum geschlossen sei. Wir hatten einen Tag Zeit um unsere Sachen zu holen, die wir für das Training benötigen. Die Schließung im April 2020 war für uns nicht so schlimm, weil wir uns in der Off-Season befanden. Insgesamt war die Kaserne für zwei Wochen geschlossen. In dieser Zeit konnten wir nicht in die Halle und in den Kraftraum. Das war das Einzige, das genervt hat, da man kein Krafttraining machen konnte. In Oberhof konnte man sich im Freien bewegen. Jedoch hat man gemerkt, dass auf den Straßen nicht mehr viel los war und nur noch der Supermarkt offen hatte. Außerdem liefen alle Leute mit einer Maske herum.
Fanden Sie es richtig, dass 2020 die Olympischen Spiele in Tokio abgesagt und auf 2021 verschoben wurden, auch wenn es Sie nicht direkt betroffen hat?
Ja. Es wäre schön gewesen, wenn das Event gut über die Bühne gegangen wäre. Aber wenn einer das Virus hat und es sich dann verbreitet, möchte man dies nicht verantworten. Ist man der Verantwortliche und es geht aufgrund von Covid-19 schief, ist man richtig der „Depp“. Deshalb ist es auf jeden Fall eine verantwortungsvolle Entscheidung gewesen, die Olympischen Spiele abzusagen.
Kommen wir zu unserem Hauptthema Europa. Welche sportlichen und persönlichen Erfahrungen haben Sie bisher in Europa gemacht und was war in diesem Kontext Ihr sportliches Highlight?
Da kann ich zweimal Minsk nennen. In der weißrussischen Hauptstadt bestritt ich 2015 meine erste Junioren-Weltmeisterschaft sowie meinen ersten großen internationalen Auftritt bei der Europameisterschaft 2020. Ich erinnere mich, dass ich 2015 beim ersten Rennen den sechsten Platz erreicht habe und anschließend zweimal in die Top zehn gekommen bin. Zu diesem Zeitpunkt war ich 17 Jahre alt. Das war für mich damals der Punkt, an dem ich gemerkt habe, im Biathlon auch international ganz gut sein zu können.
Vor Ort war es eine phänomenale Atmosphäre, da die weißrussische Biathletin Daria Domratschewa mit ihrem deutschen Trainer Klaus Siebert zu dieser Zeit zur absoluten Weltklasse im Biathlon gehörte. Die weißrussischen Fans haben natürlich in erster Linie ihre eigenen Biathleten angefeuert, aber direkt danach die deutschen Sportler. Man wurde von den Fans wie ein Einheimischer gefeiert. Das fühlte sich super an. Bei der Europameisterschaft 2020 waren nicht mehr so viele Zuschauer vor Ort, da sich Corona angedeutet hatte. Es lag auch kein Schnee, daher ist mir nicht klar, wie sie die Strecken dort angelegt haben. Als wir angereist sind, war die Strecke noch nicht zu erkennen. Wir dachten, dass wir wieder abreisen würden. Jedoch gab es zwei Tage später eine Strecke. Nach jedem Rennen wurde gesagt, dass das nächste Rennen nicht stattfinde, aber die komplette EM und ein IBU-Cup haben stattgefunden. Dabei konnte ich die Silbermedaille in der Single-Mixed-Staffel im Zielsprint gewinnen. Das war mein bisher größter Erfolg im Biathlon. An dieses Ereignis werde ich mich noch lange erinnern.
Worin sehen Sie die Unterschiede in der Sportkultur zwischen Deutschland und anderen europäischen Ländern?
In den östlichen Ländern, in denen es eine Affinität zu Biathlon gibt, aber selten Weltcups ausgetragen werden, freuen sich die Fans über alles, was mit Biathlon zu tun hat. In Norwegen wiederum ist insbesondere der Weltcup in Oslo am Holmenkollen ein Volksfest, das entsprechend zelebriert wird. Jeder Mensch macht dort Langlauf oder Biathlon, so wie die Kinder bei uns Fußball spielen.
Wir waren einmal zur Saisonvorbereitung im norwegischen Trysil. Zur gleichen Zeit trug dort der größte Skiverein Oslos seine Langlaufwettkämpfe aus. 500 Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren gingen an den Start. Es ist unfassbar, aus welcher Masse an Talenten die Norweger schöpfen können. Deswegen kann ich mir gut vorstellen, dass bei den großen Events in Skandinavien eine ganz andere Stimmung ist.
In Europa, aber auch auf der ganzen Welt kam es in jüngerer Zeit immer wieder zu Rassismus-Vorfällen im Sport und im gesellschaftlichen Leben. Wie sieht die Lage in Ihrer Sportart und in Ihrer Heimat – Oberhof und Erzgebirge – aus?
Prinzipiell muss man sagen, dass der Wintersport von Grund auf schon recht „weiß“ ist. Deshalb gibt es auch, wenn rassistische Neigungen vorhanden wären, keinen Punkt, an dem diese auftreten könnten. Ich persönlich kenne niemanden, der dunkelhäutig ist und Ski läuft. Mir fällt nur im Bobsport Mariama Jamanka ein, aber da ist mir noch nie irgendetwas aufgefallen. Wer sich rassistisch äußern würde, würde geächtet werden. So etwas geht nicht unter Sportlern, das gehört sich einfach nicht. Natürlich kommt der ein oder andere scherzhafte Spaß mal vor. Das passiert aber unabhängig von der Hautfarbe eines Menschen. Rassismus würde die Sportgruppe, in der ich aktiv bin, nicht akzeptieren.
Hat Sport als internationale Plattform Ihrer Meinung nach die Chance gegen negative Trends wie eben Rassismus vorzugehen? Und finden Sie, dass man den Sport in dieser Hinsicht nutzen sollte oder sollte die Politik rausgehalten werden?
Beim Sport geht es erstmal um einen fairen Wettkampf. Jeder hat die gleichen Chancen und Rahmenbedingungen, damit ist auch der Gedanke der Gleichberechtigung präsent. Alle können in einem fairen Wettkampf ihre persönlichen Leistungen zeigen, wobei der Beste geehrt wird. Da ist kein Platz für Diskriminierungen. Daher ist Sport eine gute Plattform. Wo Sport betrieben wird, ist man sofort auf einer Wellenlänge oder hat ein Thema, worüber man reden kann. Sportler haben oft gleiche Vorstellungen oder ähnliche Werte. Deshalb können sie prinzipiell gut miteinander reden und kommen gut miteinander zurecht. Ich finde, das sollte man nutzen, um Grenzen abzubauen. Deswegen finde ich es richtig, dass der Sport wie beispielsweise die NBA in den USA ein Zeichen setzt und ihre Reichweite nutzt. Man sollte diese aber verantwortungsvoll einsetzen, um eine Entwicklung in die falsche Richtung, also in das andere Extrem, zu verhindern. Es sollte eine gesunde Gleichberechtigung geben.
Was ich wiederum auch verstehen kann, ist, dass bei Olympischen Spielen politische Äußerungen nicht erwünscht sind beziehungsweise nicht geduldet werden. Ein Sportevent muss friedlich stattfinden, und dieser Frieden sollte von den Athleten auch gezeigt und vorgelebt werden. Man marschiert zusammen ein und sollte sich gegenseitig Respekt im Wettkampf zollen. Auch sportliches Verhalten nach dem Ziel wie beispielsweise das Shake Hands ist ein Zeichen des Respekts. Ein Sportler sollte ein Vorbild sein und solche Werte auch vorleben. Aber die Olympischen Spiele als große Bühne für politische Meinungen zu nutzen, ist schwierig. Sie politisch zu instrumentalisieren, wäre falsch.
Ich erinnere mich an die „Military World Games“ vor ein bis zwei Jahren, die nur für Militärsportler ausgetragen werden. Sie fanden damals in China statt. Da waren auch Athleten von uns dabei und einer hat erzählt, dass es extrem gewesen sei. Beispielweise sei der führende Geher 200 Meter vor dem Ziel disqualifiziert worden, damit ein Chinese gewann. Auch beim Bogenschießen sowie bei vielen anderen Sportarten wurde demnach offensichtlich „beschissen“, damit China am Ende gewinnt und sich das Land gut präsentiert. Bei den „Military World Games“ gibt es keine große internationale, aber eine nationale Medienpräsenz. Der Veranstalter hat die Macht an sich gerissen und diese Spiele missbraucht. Wenn Politik und Sport zu eng miteinander verbunden sind und der Sport zum politischen Arm wird, ist die Gefahr groß, dass diese internationalen Sportevents von der Regierung des austragenden Landes genutzt werden, um sich in ein besseres Licht zu rücken.
Der Sport sollte im Fokus liegen, aber die Reichweite, die der Sportler hat, sollte genutzt werden. Man muss nicht zu allem eine Meinung haben, aber zu ein paar wichtigen Themen und diese dann auch äußern.
Erschütternde Bilder bekamen die Menschen nach dem Brand im Flüchtlingslager in Moria zu sehen. Wie beurteilen Sie diesen Vorfall? Und hat es Sie mitgenommen, als Sie erfahren hatten, was dort passiert ist?
Ich habe damals davon gelesen, aber wirklich genau damit beschäftigt habe ich mich nicht. Und mitgenommen hat es mich auch nicht. Ich habe bei der Grundausbildung, als es etwa um Afghanistan und generell um Einsätze der Bundeswehr ging, Folgendes gemerkt und gelernt: wenn man sich intensiver mit solchen Themen beschäftigt oder man aus der bequemen, warmen, heimischen Welt auf die gesamte Welt schaut, wie es da eigentlich aussieht, neigt man ziemlich schnell dazu, sich umzudrehen, in seine eigene heile Welt zurückzukehren und sich zu freuen, dass es einem gut geht. Da würde ich mich jetzt nicht ausnehmen. Wenn man sich mit allem Leid auf der Welt auseinandersetzt, wird man, glaube ich, nicht glücklich. Deshalb habe ich immer einen riesigen Respekt vor Leuten, die sich das Helfen von Menschen zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, was auch ohne Frage wichtig und nötig ist.
Es ist immer leicht gesagt: „Macht mal“ oder „Wir können doch“. Aber wenn man selber aktiv werden soll, sieht es meistens ganz anders aus. Als Außenstehender lässt es sich leicht urteilen. Manches wirkt, wenn man sich näher damit befasst, etwas surreal. Man macht Sport, um die Masse zu begeistern, aber im Endeffekt ist das einfach nur ein Selbstzweck. Dann sieht man andere Menschen, die so viele fundamentale Probleme haben, während wir uns hier mit Dingen beschäftigen, die für uns das Zentrum der Welt sind. Erst da erkennt man, wo in der Welt wirkliche Probleme sind, bei denen es um Leib und Leben geht. Diese Menschen müssen sich mit Fragen wie „Überlebe ich die Nacht?“, „Habe ich am nächsten Tag etwas zu essen?“, „Lebt mein Kind überhaupt noch?“, „Wo ist mein Kind?“ oder „Wo ist meine Mutter odermein Vater?“ beschäftigen. „First World Problems“ helfen zu verdrängen, was wirklich in einem Großteil der Welt los ist. Es ist nur ein kleiner Teil, dem es letztendlich gut geht.
Worin sehen Sie die Schwachstellen in Europa und woran sollten die Menschen in Europa, nicht nur in politischer Hinsicht, arbeiten?
Der erste Punkt wäre, dass man menschlicher wird. Hat man jemanden in der Familie, der krank ist oder dem es nicht gut geht, ist man sofort bereit zu helfen, da man auch eine Bindung zu dieser Person hat. Jeder, der noch so rassistisch oder gegen Flüchtlinge ist, würde seiner Oma, seiner Mutter oder wem auch immer helfen. Ich finde es wichtig, dass man diese Menschlichkeit auch gegenüber anderen Menschen zeigt. Diese sind genauso Mütter, Väter, Kinder. Jeder ist ein Mensch. Deswegen gibt es meiner Meinung nach keinen Grund und auch kein Recht, diese Menschen anders, schlechter oder mit Hass zu behandeln.
Es sollte in allem der Grundgedanke der Menschlichkeit vorhanden sein und es sollte nicht um Landesgrenzen gehen. Auch Fragen wie „Ist dieser Mensch jetzt illegal hier?“ oder „Darf der hier sein und warum?“ kann ich nicht verstehen. Warum sagt man „Nein, du darfst jetzt nicht hier sein, du musst zurück in ein Land, in dem alles zerbombt ist?“ Warum? Der betroffene Mensch kann nichts dafür, und nur, weil man selber in einem reichen und weißen Elternhaus geboren ist, nimmt man sich das Recht heraus, zu sagen „Nein, gehe weg“. Das ist ein zentraler Punkt. Die Menschlichkeit muss wieder wichtiger werden. Auch bei denen, die Macht und viel Verantwortung haben. Wir haben zum Glück noch immer eine Demokratie, die meiner Meinung nach grundlegend funktioniert.
Zum Abschluss möchten wir Ihnen noch drei kurze Fragen stellen. Was ist für Sie typisch europäisch?
Das Schengener Abkommen. Dass ich von Land zu Land fahren kann und einen Grenzübertritt nur daran merke, dass die Straßenschilder anders aussehen und sich die Sprache ändert. Man kann überall hinfahren, kann mit dem gleichen Geld bezahlen und muss keinen Reisepass mitnehmen. Europa ist im Endeffekt ein großes, sehr vielfältiges Land. Man kommt in allen Ländern mit den gleichen Rahmenbedingungen klar. Jeder kann frei in den Urlaub fahren und kommt in einem sehr großen Radius überall hin.
Worauf können die Menschen in Europa Ihrer Meinung nach stolz sein?
Definitiv auf die Demokratie und Moral. Und auf jeden Fall können die Menschen auf die gesellschaftlichen Werte stolz sein.
Welches europäische Land würden Sie gerne sportlich sowie touristisch bereisen?
Aus sportlicher Sicht möchte ich gerne noch öfter nach Skandinavien – wegen der Begeisterung für unseren Sport. Touristisch gesehen ist Island ein Highlight und wichtiger Punkt auf meiner Checkliste, der noch abgearbeitet werden muss.