Karate ist in Deutschland eine Sportart, die nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient. Hoher Trainingsaufwand und geringe Verdienstmöglichkeiten im Spitzensportbereich – dies trifft auf Karate zu. Dennoch konnte vor über zehn Jahren ein Flyer von der Tankstelle Daniel Winter davon überzeugen, sich dem Sport hinzugeben.
Ruhig, nett und unscheinbar. So könnte man Daniel Winter in drei Worten beschreiben. Auf den ersten Blick scheint der 20-Jährige mit seinen blonden Haaren und 1,80 Meter wie ein gewöhnlicher Junge. Und doch steckt in ihm viel mehr – nämlich ein echter Kämpfer. Denn seit seinem achten Lebensjahr ist Winter Karatekämpfer. In seiner Disziplin Kata, bei der festgelegte Bewegungsabläufe ausgeführt werden, gehört er zu den deutschen Nachwuchskämpfern. Der Weg an die Spitze hat ihn aber viel Zeit und Ausdauer gekostet.
Aufgewachsen ist Winter auf einem Bauernhof im Norden Baden-Württembergs. Spaziert man über den Hof, ist weit und breit nichts zu sehen, nur Bäume, Wälder und Wiesen. „Als ich noch zur Grundschule ging, hat meine Mutter an einer Tankstelle den Flyer einer Karateschule entdeckt und mitgebracht“, berichtet Winter über den Beginn seiner Karriere. Stefanie Winter erzählt: „Daniel hat sich schon lange gewünscht einen neuen Sport auszuprobieren, also habe ich den Flyer mitgenommen.“ So abgeschieden auf dem Land sei es für Daniel schwer gewesen, neue Hobbies zu finden. Fortan fuhr Stefanie Winter ihren Sohn also viermal in der Woche in das 40 Kilometer entfernte Schwaigern, damit er dort das Kinderkaratetraining besuchen konnte. Sie dachte seine Begeisterung sei möglicherweise nur eine „Phase, die wieder vorübergehen würde – dem war jedoch nicht so“, erzählt sie schmunzelnd. Schnell hat sich gezeigt, dass der frische Karateka wirklich motiviert und erfolgreich seinem neuen Hobby nachging.
2011 wurde Winter Mitglied im Deutschen Karate-Verband. Noch im selben Jahr erkämpfte er sich den zweiten Platz bei den Landesmeisterschaften. Während seiner Schulzeit hat er schließlich den Verein gewechselt, trainierte dann in Neudenau beim Iuventus-Team Franken und wurde Mitglied im Landeskader. Von nun an trainierte der Karateka noch häufiger und intensiver. Und trotz des großen Zeitaufwands blieb Winter ruhig und fokussiert, sodass seine schulischen Leistungen nicht unter dem Leistungssport litten.
Dass er Karate leistungsmäßig betreibt, hat man ihm aber nie angemerkt. Erzählungen seiner ehemaligen Mitschüler zufolge habe er weder mit seinen Erfolgen geprahlt, noch wussten viele überhaupt von seinem Hobby. Selbst seine ehemalige Mathematik- und Sportlehrerin Bianca Klein hat erst nach mehreren Monaten erfahren, dass Winter professionell auf internationale Wettkämpfe fährt. Auf sie wirkte der Karateka recht ruhig, merkte aber, dass er vor allem im Sportunterricht immer fokussiert und diszipliniert bei der Sache war. Mit der Zeit fehlte er jedoch immer häufiger im Unterricht, um zu großen Wettkämpfen im Ausland zu fahren. Während seine Klassenkameraden im Unterricht saßen und lernten, kämpfte er um Medaillen – in Österreich, Portugal und sogar Malaysia. Den verpassten Schulstoff holte er später nach und konnte so trotz allem Bestleistungen in der Schule zeigen.
Mit einem vollgepackten Alltag als Sportler muss man auch stressresistent sein, wie Winter es beschreibt. „In stressigen Zeiten bestand fast jeder Wochentag von morgens bis nachmittags aus Schule, von dort aus ging es direkt ins Training und abends, wenn ich wieder zu Hause war, musste im Notfall auch gegen 21 Uhr für eine Klausur gelernt werden“, so Winter. Am Wochenende standen zusätzlich noch längere Trainingseinheiten auf dem Programm. Seinen Erzählungen nach zu urteilen, scheint es ihn vielmehr angespornt zu haben, sowohl Karate erfolgreich zu praktizieren als auch sein Abitur abzuschließen, ohne dass etwas davon zu kurz kam. „Er wollte beide Dinge, deshalb hat es funktioniert. Ich habe ihm da auch nie Druck gemacht, er hat es immer von sich aus gewollt“, so Stefanie Winter.
„Eine Sache jedoch hat schon ein bisschen gelitten – und zwar die Beziehung zu meinen Freunden“, gibt der Karateka zu. Lediglich seine Trainingspartner und Trainer hat er regelmäßig gesehen, für Schulfreunde war oft keine Zeit – dafür war er zu beschäftigt. Auch seiner Mutter ist das aufgefallen und hat ihn animiert, neue Kontakte zu knüpfen. „Ich bin sehr stolz auf ihn, dass er sich angestrengt hat, auch den Kontakt zu seinen Leuten in der Schule zu halten. Durch seine Freunde haben sich Daniels Leistungen zum Positiven gewendet, das hat man sowohl in der Schule als auch beim Karate gemerkt.“
Mittlerweile studiert der 20-Jährige im dritten Semester Wirtschaftsinformatik in Stuttgart. Karate darf aber auch während des Studiums nicht zu kurz kommen. „Im Gegensatz zur Schule merke ich jetzt definitiv, dass es deutlich schwieriger wird, beides aufrechtzuerhalten. Da muss ich jetzt einfach mal schauen, wie ich das Ganze machen werden“, erzählt Winter. Vor allem im Oktober bei den Vorbereitungen für die Deutschen U21 Meisterschaften in Kempten habe er den Zeitaufwand gespürt: „Jeden Tag eine Stunde zum Training fahren und nebenbei auch noch Abgabefristen an der Uni einhalten, ist mittlerweile nicht mehr so einfach.“ Auch seine Trainerin Lena Mayer spürt das: „Manchmal ist er etwas müde. Das spricht er dann aber offen an und wir gestalten das Training entsprechend.“ Gelohnt hat sich der Aufwand allemal, denn er konnte den fünften Platz in Kempten erkämpfen.
Etwas, das dem Studenten jedoch zu denken gibt, ist die Tatsache, dass man als Karateka in Deutschland fast kein Geld durch den Sport verdient. Kata-Kämpfern wie Winter fehlt die mediale Aufmerksamkeit, auch mangelt es an großen Sponsoren. „Ich muss mich bald entscheiden, ob ich langfristig gesehen lieber eine Karriere im Sport anstreben möchte oder doch eine in der Wirtschaft.“ Solange er Studium und Karate aber noch miteinander vereinbaren kann, scheint das Karriereende noch nicht in Sicht zu sein. Im Gegenteil, denn bereits zu Jahresbeginn ist die Vorbereitung für die nächsten Wettkämpfe schon wieder in vollem Gange. Ehrgeizig wie Winter ist, möchte er auch hier wieder Bestleistungen zeigen und auf dem Treppchen landen.
- Vom Tankstellen-Flyer bis zu den deutschen Meisterschaften - 3. April 2022