Es ist der 29. April 2017. Ich stecke mitten in den Abiturprüfungen und bin gerade zu meinem Vater nach Leipzig gefahren. Der Tag war kühl und so sitzen wir wie viele andere Menschen rund um die Welt gegen 21 Uhr vor dem Fernseher, als Antony Joshua für seinen Titelkampf gegen Wladimir Klitschko in den Box-Ring steigt. Es wird ein denkwürdiger Kampf über elf Runden, beide gehen zu Boden, beide stehen wieder auf, bis am Ende Joshua mit einem technischen K.o. siegt. Das Comeback Klitschkos ist nicht geglückt, doch Joshua zeigt sich wortgewandt als ein exzellenter Nachfolger und Champion. Dieser Kampf hat mich tief beeindruckt und für diesen Sport begeistert.
Ich bin mit Fußball aufgewachsen. In den Schulpausen haben wir immer gekickt, im Sportunterricht ging es bei Spielen hitzig zu. Ich konnte mich damit aber nie identifizieren. Zwar habe ich die Weltmeisterschaft mit Interesse verfolgt, doch wirklich Spaß gemacht hat es mir nie. Gegen Ende 2017 ziehe ich für ein Praktikum als „Teaching and Boarding Assistant“ nach Irland, wo ich nach und nach Mixed Martial Arts (MMA) für mich entdecke. In den freien Stunden, wenn das Internatsgebäude von Schülern wie leergefegt ist, schauen meine Kollegen und ich Wiederholungen der Ultimate Fighting Championship (UFC) an, der finanziell erfolgreichsten MMA-Organisation der Welt. Diese bieten überall auf der Welt, mehrmals im Monat, eine Bühne für Kampfsport jeder Art, sei es nun Boxen, Jiu-Jitsu oder Wrestling. Doch was hat mich daran fasziniert? Und das nicht nur mich, sondern teilweise auch ganze Länder, wie man etwa in Australien sieht? Dort stellt die UFC immer wieder neue Besucher-Rekorde auf, wie zuletzt im Oktober 2019 im Marvel Stadium. So viel sei vorweggenommen, mich faszinierte nicht bloß der Respekt zwischen den Kämpfern, so wie ich ihn das erste Mal zwischen Klitschko und Joshua wahrgenommen habe.
Kampfsportler verletzen sich, wie Athleten in jeder anderen Sportart mit Körperkontakt. Muskelzerrungen, Gehirnerschütterungen, Armbrüche, Leistenbrüche kommen vor – im November 2019 starb die 26-jährige Saeideh Aletaha bei einem MMA-Kampf. Seit Mixed Martial Arts in den 1990er Jahren entstanden ist, wurde es nicht nur in den USA als zu brutal eingestuft, sondern unter anderem sogar vom ehemaligen Vorsitzenden des Sportausschusses des deutschen Bundestags Peter Danckert als „moderner Gladiatorenkampf“ bezeichnet. Auch der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière war besorgt: MMA sei eine „abscheuliche Form der Menschendarstellung“, sagte er in einem Interview 2016. In Deutschland war die Übertragung zwischen 2010 und 2014 verboten, in Frankreich wurde ein umfangreiches Veranstaltungsverbot erst Anfang dieses Jahres aufgehoben. Vielfach wird MMA deshalb kritisiert, dass Schläge und Tritte auch am Boden erlaubt sind. Auch steht die Befürchtung im Raum, Jugendliche könnten dadurch inspiriert werden, das auf dem Fernseher beobachtete auch auf dem Schulhof nachzumachen. Ist der Vorwurf „moderner Gladiatorenkampf“ also gerechtfertigt?
Zunächst einmal: Kampfsport ist nicht gleich Kampfsport. Und Kampfsport ist auch nicht gleichbedeutend mit einem Wettkampf. Es gibt nicht in jeder Kampfsportart Schlag- und Tritttechniken. Beispielsweise im Aikido, wo der Fokus streng auf Verteidigung liegt. Die Angriffs- und Bewegungsrichtung des Gegners sollen vor allem mittels verschiedener Wurftechniken so umgeleitet werden, dass dieser möglichst ohne Verletzung außer Gefecht gesetzt wird. Es gibt nicht nur Hobbykicker, die sich beim Freundschaftsspiel verletzen, sondern auch Hobbykämpfer, die sich beim Training oder Sparring verletzen. Obwohl viele Jungen und Mädchen davon träumen, später Profi-Fußballer oder Profi-Kämpfer zu sein: Für viele bleibt es ein Hobby, das sie gerne ins Erwachsenenalter mitnehmen.
Das ist auch gut so. Jedes Kind, jeder Mensch ist individuell. Es gibt so viele Sportarten, die man für sich selbst oder für sein Kind aussuchen könnte. Kampfsport, sei es nun Kickboxen, Jiu-Jitsu oder Judo, ist auch für Kinder eine gute Wahl. Kampfsport ist ein optimales Fitness-Training, weil es die Muskulatur des gesamten Körpers beansprucht, dabei Kraft, Ausdauer und Koordination verbessert. Kampfsport trainiert aber nicht nur den Körper, sondern gleichermaßen den Geist. Jahrelang werden Konzentration, Reflexe, Motorik, Wertschätzung, Respekt vor dem Gegner geübt. Man lernt auch, auf sich selbst zu vertrauen. Und diese Fähigkeit benötigen Kinder in der heutigen Zeit nun immer mehr, um bei wachsendem (Konkurrenz-) Druck in der Bildung und im Beruf nicht den Überblick zu verlieren.
Dies sollte das Ziel von guter Erziehung sein. Manchmal reicht es für ein Kind nicht, ihm vorzugeben, was gut und was schlecht sei. Heranwachsende Kinder müssen Dinge selbst ausprobieren und testen, wo ihre Grenzen sind. Dass überall Risiken lauern, ist nicht nur Helikopter-Eltern bewusst. So sehr man versucht sich und andere vor Gefahren zu schützen, so sehr man Vorkehrungen trifft, es kann immer etwas schiefgehen. Und wenn das passiert, sollte man auf sich selbst, aber auch auf seine Mitmenschen vertrauen können. Kampfsport kann ein guter Weg sein, einer von vielen, solches Vertrauen aufzubauen.
Dieses Mantra verfolgt auch One Team, ein Kampfsport-Gym in Reutlingen. Hier können Kinder bereits im Alter ab drei Jahren trainieren. Studio-Besitzer und Kickbox-Trainer Nebil Younan ist es dabei sehr wichtig, dass die Nachwuchs-Sportler eine ‚Ich-Kann-Das-Einstellung‘ lernen. „In diesem Alter sollte man den Kampfsport-Aspekt nicht überbewerten“, sagt Younan. „Training ist hier eher das falsche Wort, vielmehr ähneln die 45 Minuten einer Unterrichtseinheit.“ Daraus sind lediglich zehn Minuten für Schlag- und Tritttechniken vorgesehen. Die restliche Zeit verbringt die Gruppe mit Ruheminuten, Dehnen, Kräftigung, Parkour, aber auch Gefahrenerkennung. Anhand von Bildern lernen die Kinder, welche Situationen gefährlich sind, wie man sich verhalten sollte, wem man im Notfall vertrauen kann. Sie lernen, wie wichtig Polizei und Feuerwehr sind. Sie lernen, wie man sich respektvoll gegenüber anderen benimmt.
Nach jeder Unterrichtseinheit bekommen die Kids einen Stempel. Die Anwesenheit bestätigt ein schwarzer Stempel, rot ist er, wenn sich das Kind besonders angestrengt hat. Die Trainer schätzen dies ein, indem sie unter anderem darauf achten, wie aufmerksam das Kind ist und ob es sich anderen gegenüber respektvoll verhält. Stempel sind nicht nur eine gute Gelegenheit für eine Rückmeldung der Trainer an die Kinder, sie sind auch Grundlage der Gürtelprüfungen, die man ab einem Alter von sechs Jahren ablegen kann. Um für eine Gürtelprüfung zugelassen zu werden, müssen bei einem Kind mindestens die Hälfte aller Stempel rot sein. Gelingt das nicht, werden diese auf die nächste Gürtelprüfung übertragen. Das bedeutet: streng dich noch mehr an.
Das haben Moritz und Felix genauso mitgemacht und gelernt. Nicole Heinrich, 54-jährige ausgebildete Krankenschwester, hat ihre zwei inzwischen erwachsenen Söhne als Kinder in Bad Soden am Taunus zum Jiu-Jitsu und Judo geschickt. Sie findet, ihre Söhne haben durch die Erfahrungen mit dem Sport vieles gelernt, so auch Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Sorgen machte sie sich vor allem bei Wettbewerben, bei denen es schon vorkam, dass übereifrige Kinder anderen Teilnehmern den Arm brachen. Doch insgesamt hätten ihre Söhne keinen besseren Sport finden können, findet Nicole Heinrich, da die beiden viel fürs Leben mitnahmen. Nicht nur die Fähigkeit, körperlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, sondern auch ein verstärktes Teamgefühl.
Ich habe als Schüler etwa ein halbes Jahr im Judo trainiert. Als Student habe ich mich im Uni-Sport an Jiu-Jitsu versucht. Ich bin jedoch nicht dabeigeblieben, weil mir schlichtweg die Motivation gefehlt hat. Ich habe mich als Anfänger nicht gut aufgehoben gefühlt. Im Oktober 2019 mache ich als Gast beim Kickbox-Training bei One Team Reutlingen mit. Hier erlebe ich etwas Anderes.
Beeindruckend für mich ist der Zusammenhalt des Teams. Alle trainieren im selben Raum, ob Anfänger oder Fortgeschrittene. Rat kann man sich nicht nur vom Trainer holen, sondern auch von den Trainingspartnern. Diese spornen sich gegenseitig an und scherzen miteinander. Auch wenn man im Wettkampf schlussendlich allein mit dem Gegner im Ring steht: das Erlernen der Techniken hat man größtenteils seinem Team zu verdanken.
Vor allem bei Jiu-Jitsu muss man ein Teamplayer sein. Wie bei vielen anderen Kampfsportarten heißt es als Anfänger erst einmal: Kondition üben und Techniken pauken. Doch dafür sind immer mindestens zwei Menschen notwendig, die einander auf Augenhöhe begegnen müssen. Was vom Trainer und den fortgeschrittenen Schülern vorgeführt wird, muss im Paar nachgemacht werden. Als Uke (Verteidiger) muss man sein Ego an der Tür ablegen und teilweise passiv agieren, sodass auch der Tori (Angreifer) die vielzähligen Techniken, Würfe und Aufgabegriffe nachvollziehen kann. Dies erfordert nicht nur Geduld und Ruhe, sondern stärkt auch das Selbstbewusstsein. Man muss auf sich selbst vertrauen und mit sich im Reinen sein, auch wenn man gerade nicht die Zügel in der Hand hat.
Was bleibt also am Ende bestehen? Ich denke, dass Kampfsport – in meinem Fall Jiu-Jitsu, Judo und Kickboxen – eine gute Wahl sein kann. Es gibt viele Kampfsportarten, die man trainieren kann, wobei viele einen eigenen Schwerpunkt verfolgen, der je nach Sichtweise kritisch betrachtet werden kann. Capoeira beispielsweise – das für ungeübte Augen wie Tanztraining aussieht. Oder Kampfsportarten wie Krav Maga, welche Selbstverteidigung aus einem militärischen Kontext nehmen, dessen Nutzen für den (sportlichen) Alltag manchmal etwas fragwürdig ist. Was ist mit MMA? Wie Krav Maga, Bruce Lees Jeet Kune Do oder das ehemals sowjetische Sambo werden in MMA in der Praxis funktionierende Techniken vereint. Also eine großartige Wahl, wenn man sich denn auf Selbstverteidigung konzentrieren oder sogar in den Wettkampf gehen will.
Doch allen Kampfsportarten scheint etwas gemein zu sein: Man trainiert nicht nur seine Fitness bis zum äußersten und testet laufend die eigenen Grenzen aus, um immer weiter zu kommen. Man trainiert auch seinen Geist, die Mentalität, dadurch auch die Art, wie man im realen Leben in Gewaltsituationen handelt. Wie bei One Team Reutlingen lernt man, sich Ziele zu setzen und ehrgeizig darauf hinzuarbeiten, auch wenn nicht immer alles glatt läuft.
Doch trotzdem bleibt das Risiko, sich weh zu tun. Nebil Younan und sein Team geben ihr Bestes, damit Verletzungen aufgrund von Aggressivität oder Unvorsichtigkeit ausbleiben. Das sehen sie mit gutem Recht als eine ihrer höchsten Verantwortungen als Trainer, Pädagogen, aber auch ehemalige oder gegenwärtige professionelle Kampfsportler. Dies habe ich persönlich, und nicht nur bei One Team Reutlingen, so erlebt. Kommt es zu einer Verletzung im Training, liegt das häufig daran, übereifrig gewesen zu sein oder eine Technik falsch ausgeführt zu haben. Was die Verletzungen im Wettkampf angeht, sind diese oftmals nicht vorherzusehen.
Ist es also eine gute Idee, Kinder ins Kampfsport-Studio zu schicken? Auf jeden Fall, finde ich. Annette Wenzel (55), Sportpädagogin am Mediclin Reha-Zentrum in Bad Düben sieht das ähnlich. Doch bevor es mit den Techniken losgehe, sollen den Kindern erst Grundlagen in Form von Ausdauer und Schnelligkeit, am besten in der Form von Spielen, beigebracht werden. Dabei sei es jedoch äußerst wichtig, beide Körper-Seiten gleich stark zu belasten, damit keine Orthodisbalancen entstehen, denn Krankheitsbilder seien immer möglich. Dr. Martina Büchau, ebenfalls Sporttherapeutin (61) in Bad Düben denkt, dass Kampfsport psychologisch-pädagogische Komponenten wie Selbstschutz, Achtung des Gegners und Toleranz vermitteln kann. Dies alles könne auch Kindern frühzeitig vermittelt werden, um ihnen helfen zu lernen, Situationen zu bewerten.
Bei One Team Reutlingen ist dies meinem Eindruck nach bereits gut umgesetzt. Wie es bei anderen Kampfsport-Gyms aussieht, davon muss man sich als Elternteil oder allgemein als Interessent natürlich erst einmal eine Vorstellung machen. Welche Kampfsportarten bietet das jeweilige Studio an? Welche Qualifikationen haben die Trainer? Auch wenn man das Risiko nicht zu 100 Prozent ausschließen kann, Vorkehrungen kann und sollte man treffen. Wie bei so viel anderem gilt aber die Maxime: nicht übertreiben. Kinder brauchen auch ihre Freiheit. Diese können sie beim Kampfsport mit Spaß verbinden. Denn ein Kampfsport-Gym ist nicht einfach ein Ort, wo man Selbstverteidigung lernt. Hier zieht man sich zurück, hat zusammen Spaß und geht an seine Grenzen. Was ist daran auszusetzen?
Georgi Kolev