Pia Maria Wippert ist Professorin für Medizinische Soziologie und Psychobiologie an der Universität Potsdam. Sie war selbst Leistungssportlerin im Ski-Freestyle und blickt auf mehrere Gesamteuropacup-Podiumsplätze zurück. Wissenschaftlich hat sie sich mit dem Karriereende von Leistungssportlern beschäftigt. Welche Faktoren einen Einfluss auf den Umgang mit dem Karriereende haben und wie das von ihr erarbeitete Interventionsprogramm für ehemalige Sportler aussieht, erklärt sie der SportSirene-Redakteurin Anna Bögner im Interview.
Frau Wippert, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit den nachsportlichen Karriereverläufen deutscher Sportler. 2011 erschien Ihre Studie „Kritische Lebensereignisse in Hochleistungsbiografien“, bei der Sie Sportler mit Tänzern und Musikern verglichen haben. Was waren die zentralen Forschungsergebnisse?
Ich habe mehrere Studien zu Athleten, Tänzern und Musikern durchgeführt. Im Fokus stand, wie das Karriereende erlebt und verarbeitet wird. Die Ergebnisse wurden dann aus entwicklungspsychologischer Sicht ausgewertet. Die Studie über Athleten war eine Längsschnittstudie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Skiverband. Ich konnte die Sportler vor ihrem Karriereende, also zur Zeit ihrer letzten Wettkämpfe und nach ihrem Ausscheiden aus dem Kader und Karriereende bis knapp ein Jahr lang insgesamt sechsmal befragen, wobei die Zukunftspläne der Ex-Profis sowie das Erleben und der Umgang mit dem Karriereende durch die Athleten im Fokus standen. Es war die erste Studie, in der Bedingungen, Merkmale und Konsequenzen eines Karriereendes beziehungsweise Karriereabbruchs in Echtzeit verfolgt werden konnte. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Umgang mit dem Ereignis sowie der weitere Lebensweg von drei Hauptkomponenten abhängig ist.
Welche Komponenten sind das?
Wie beendet der Sportler seine Karriere? Handelt es sich dabei um eine eigene oder fremde Entscheidung? Am besten können Sportler mit dem Ende ihrer Karriere umgehen, wenn dies frei gewählt ist, das heißt, wenn sie zum Beispiel andere Zukunftspläne haben. Diejenigen allerdings, bei denen die Entscheidung durch äußere Einflüsse wie eine Verletzung oder eine unerwartete Nichtnominierung für einen Kader getroffen wurde, zeigen häufig psychosomatische Belastungsreaktionen und eine hohe Stressvulnerabilität; etwa 45% dieser Athleten entwickelt eine posttraumatische Belastungsstörung. Neben seelischen Einbußen wie depressiven Verstimmungen ist auch eine Zunahme an somatischen Symptomen, Schlafstörung, hohe vitale Erschöpfung, unspezifische körperliche Beschwerden und ähnliches zu verzeichnen. Zweitens entscheiden persönliche Ressourcen wie die Kompetenz und Kontrollüberzeugung oder Selbstakzeptanz maßgeblich darüber, wie Athleten mit dem Karriereende umgehen. Bei einem unkontrollierbaren Karriereende ist ein Anstieg dieser Überzeugungen im Sinne einer Schutzreaktion wichtig, um die Identitätsumbildungs- und Verarbeitungsphase besser und in kürzerer Zeit bewältigen zu können. Und drittens fällt auf, dass diejenigen Personen, die bereits mit anderen schwierigen Situationen in ihrer Biografie konfrontiert waren, besser mit dem Karriereende klargekommen sind.
Wie lange dauert so ein Verarbeitungs- beziehungsweise Selbstfindungsprozess?
Das ist schwer zu beantworten, weil diese Prozesse trotz allem sehr individuell und schwer zu kategorisieren sind. Die Verarbeitungsstufe und der Weg zu einer neuen Identität dauerte in meiner Studie an Athleten zwischen einem dreiviertel Jahr und fünf Jahren. Gerade für Jugendliche kann eine solche Situation überdurchschnittlich schwer zu bewältigen sein, weil diese sich ohnehin schon in einer Findungsphase befinden. Es gibt auch sehr traurige Fälle, in denen ehemalige Sportler mit den Umstellungen überhaupt nicht umgehen können. Es gibt eine hohe Suizidrate unter ehemaligen Sportlern, deren Ursache nicht hinreichend geklärt ist.
Sie haben ein Interventions- und Mentorenprogramm für Sportverbände für die nachsportliche Karriere von Athleten entwickelt. Welche Bausteine umfasst dieses Programm?
Es ist ein Mentorenprogramm auf mehreren Ebenen: Gesundheit, soziales Umfeld und persönliche Belange. Die Mentoren werden speziell in den drei Themen geschult und sollen den ehemaligen Athleten den Übergang aus der Sportkarriere in das „normale“ Leben erleichtern. Im Optimalfall sind sie selbst ehemalige Leistungssportler, die im Berufsleben Fuß gefasst haben und somit aus eigener Erfahrung berichten können. In der Übergangsphase unterstützen die Mentoren auch bei Themen wie dem Abtrainieren, der Rehabilitation nach Verletzungen, möglichen psychischen und auch sozialen Problemen, zum Beispiel in der Familie. Ganz wichtig aber ist, dass Verbände, Trainer sowie Agenturen transparent mit dem Sportler umgehen und im Falle eines anstehenden Karriereendes planen, wann dieser für einen Athleten persönlich so wichtige Schritt vollzogen und in welchem Rahmen kommuniziert wird. So werden auch Rückforderungsklagen vermieden, wenn beispielsweise Sportler noch in laufenden Werbeverträgen stehen.
Wie haben die deutschen Sportverbände auf Ihre Untersuchungsergebnisse reagiert?
Der Deutsche Skiverband hat das Interventions- und Mentorenprogramm übernommen und mittlerweile ist es auch Teil einer EU-Deklaration. In dieser ist international verankert, dass für Sportler Transkriptions- oder Übergabe-Programme angeboten werden sollten. So sind die Richtlinien in vielen Sportverbänden teilweise übernommen worden wie in Dänemark, Österreich und der Schweiz. In Deutschland wurden Inhalte von einzelnen Initiativen genutzt, aber es gab keine flächendeckende Übernahme, so wie ich es mir gewünscht hätte. Das Programm wurde dennoch mehrfach prämiert und tut vielen Athleten international sehr gut.
Warum wurde das Programm in Deutschland nicht implementiert?
Ein Grund ist das föderale System. Das beste und aktuellste Beispiel ist die Pandemie. Da war es gefühlt unmöglich, länder- und sportartenübergreifend einheitliche Lösungen für den Spitzensport zu finden. Alle haben eigene Lösungsansätze gesucht, wobei das Problem überall das gleiche war.
Gibt es hier sportartenspezifische Unterschiede?
Die Sportausübung an sich ist ja schon sehr unterschiedlich. Ein Skifahrer ist anders als ein Leichtathlet 250 bis 300 Tage im Jahr unterwegs. Ein parallellaufendes Studium ist, zumindest in Präsenz, unter den Bedingungen nicht möglich. Auch die Einnahmen der Athleten unterscheiden sich in Abhängigkeit von den Sportarten. Beispiele dafür sind Preisgelder, Vereinsverträge und Sponsoringverträge.
Seit 2020 können Spitzensportler Zuschüsse für eine private Altersvorsorge erhalten. Damit sollen finanzielle Nachteile ausgeglichen werden, die aus einem verzögerten Berufseinstieg entstehen und auch während der Sportkarriere für das Rentenalter vorzusorgen. Geht dieser Schritt vom Bundesministerium des Innern und der Stiftung Deutsche Sporthilfe in die richtige Richtung?
Damit ist ein erster wichtiger Schritt getan. Die Frage ist, wie effizient das Berentungssystem ist und ob nicht weitergehende Maßnahmen nötig sind, wie ein eigener Rücklagenfond für Sportler, der sich zum Beispiel aus prozentualen Einzahlungen von Preisgeldern, Werbeeinnahmen, freiwilligen Zahlungen oder Spenden speisen kann und damit einer breiteren Anzahl an Athleten zugänglich wird. Die finanzielle Absicherung ist in Deutschland gerade für Sportler lange ein großes Problem gewesen. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass sich das ändert.
Sie waren selbst Spitzensportlerin im Ski Freestyle. Waren Sie zu Ihrer eigenen Karrierezeit jemals mit der Thematik des nachsportlichen Karriereverlaufs konfrontiert?
Viele Forschungsthemen sind biografisch veranlagt und deshalb ja, natürlich! Ich war Sportlerin im Ski-Alpin und habe nach einer verletzungsbedingt verpatzten Saison aus der Ortszeitung von meiner Nicht-Nominierung im Bundeskader erfahren. Ich hatte jedoch die Möglichkeit mich über den Anschlusskader wieder zurück zu qualifizieren. Einige Jahre später habe ich mich dann für den Ski-Freestyle-Sport entschieden. Von anderen Sportlern habe ich aber gleichzeitig mitbekommen, dass sie einfach kurzfristig und ohne Vorwarnung ganz aus der Förderung genommen wurden und sich die Fortsetzung ihrer Karriere schlichtweg nicht leisten konnten. Es endet ja nicht nur die Kaderzugehörigkeit, sondern häufig auch die berufliche Eingebundenheit in der Sportfördergruppe der Bundeswehr oder dem Bundesgrenzschutz sowie Trainingsmöglichkeiten oder die medizinische Versorgung im Olympiastützunkt. Manche Athleten bekommen dann trotz ihres großen Potentials nicht mehr die Kurve, weil die Unterstützung fehlt. Häufig wird dann nicht mehr der erwünschte oder ersehnte Berufsweg, sondern der erstbeste eingeschlagen, um sich über Wasser zu halten. Darunter leidet in vielen Fällen die Persönlichkeitsentwicklung der Ex-Sportler.
Bekommt das Thema „Karriereende im Sport“ derzeit genug Aufmerksamkeit?
Mein Eindruck ist, dass das Thema immer wieder adressiert werden muss, solange es noch unzureichende Beratungs- und Versorgungsangebote gibt. Im Tanzsport zum Beispiel gibt es ein bundesweites Transitionszentrum als Anlaufstelle für ehemalige Tänzer. In Ländern wie Dänemark zum Beispiel gibt es dies auch für den Sport. Auch adressiert das Berentungssystem eine eher kleine Anzahl an Athleten, überwiegend aus dem Olympia- und Perspektivkader. Die vielen anderen Nachwuchsathleten und Athleten, die auf Europacup-, Weltcupebene erfolgreich sind, gegebenenfalls auf dem Weg nach ganz oben verletzungsbedingt ausscheiden, kommen nach 15 bis 30 investierten Lebensjahren nicht zum Zug. Da haben wir in Deutschland noch Luft nach oben und brauchen noch mehr politische Unterstützung. Zumal der organisierte Sport – in der Logik des subsidiären Förderprinzips – auch einiges für Deutschland tut, wie zum Beispiel die Vorhaltung unzähliger Präventionsangebote in Vereinen.
- „Darunter leidet die Persönlichkeitsentwicklung der Ex-Sportler“ - 19. August 2023