Bei der Dart-WM verschwimmt die Grenze zwischen Sport und Event.

Der Alexandra Palace in London tobt. Auf den Sitzen hält es niemanden mehr. „Stand up if you love the darts” klingt aus 2500 Kehlen begeisterter Dartfans. Die Stimmung ist atemberaubend. Nur wenige Augenblicke später schreien die Zuschauer auf und strecken rote Schilder mit der weißen Aufschrift „180“ in die Höhe. Einige kennen dieses Bild aus dem Fernsehen. Ein Dartprofi hat soeben das Maximum im Dartsport erzielt – drei Dartpfeile landeten im Triple-20-Segment des Boards. Bemerkenswert, denn der Triple-Ring umfasst gerade ein Innenmaß von 8 mm.
Zuletzt wurde die Ladbrokes World Darts Championship vom 14. Dezember 2012 bis zum 1. Januar 2013 in London ausgetragen. Wie zahlreiche weitere Deutsche bin ich zwischen den Jahren nach London gereist, um das Spektakel, das mir bisher nur aus Fernsehübertragungen des Sportspartensenders Sport1 bekannt war, vor Ort mitzuerleben. Es sollten zwei unvergessliche Viertelfinalabende in Englands Hauptstadt werden.
Ein verregneter Freitagabend, typisches England-Wetter eben. Vor dem Seiteneingang des Alexandra Palace – kurz auch Ally Pally – tummeln sich zahlreiche Menschen und warten auf den Einlass. Einige nutzen die exponierte Lage des Palastes, der sich auf einer Anhöhe im Norden von Londons Stadtbezirk Haringey befindet, und genießen den wunderbaren Ausblick über London. Andere sind davon weniger begeistert, laufen hektisch vor dem Eingang auf und ab und versuchen noch kurz vor dem Event eine Eintrittskarte zu ergattern. Knapp eineinhalb Stunden später sollen der Niederländer Raymond van Barneveld und der Australier Simon Whitlock die Bühne betreten und den ersten Viertelfinalabend der Dart-WM eröffnen. Ein Großteil der Menschen, die diesen Moment herbeisehnen, sind Männer – die meisten von ihnen verkleidet. Bevor diesen der Einlass in den Innenraum gewährt wird, warten einige in schwarz gekleidete Sicherheitsbeauftragte, die jeden Zuschauer, ähnlich wie bei Fußballspielen, gründlich kontrollieren. Im Innenbereich des Alexandra Palace erwartet die Besucher eine imposante Architektur. Vorrangig für die meisten Dartfans sind hier jedoch die Verkaufsstände, die während des Turniers geöffnet sind. Speisen, Getränke, Fanartikel und auch einige Dartboards, an denen die eigenen Fähigkeiten mit den Pfeilen unter Beweis gestellt werden können, warten auf die Zuschauer.
Aber wo wird hier Darts gespielt? Wo werfen die dickbäuchigen Männer spitze Pfeile auf die runde Scheibe? Die sogenannte „Main Arena“ ist durch rote Werbebanner des Ausrichters und Wettanbieters Ladbrokes gekennzeichnet und befindet sich am linken Flügel des Innenraumes. Ein lang gezogener Gang, ausgelegt mit einem schwarzen Teppich, führt in den rund 2500 Zuschauer fassenden Nebenraum des Palastes. Die Dartfans finden entweder Platz an Tischen, die sich von der Bühne bis in den hinteren Bereich der Halle erstrecken, oder auf einem grünen Plastiksitz auf der Tribüne, die sich hinter und an einer Seite der Tischreihen befindet. Die Dartscheibe, die im Zentrum der Bühne befestigt ist, ist kaum erkennbar. In welchem Feld des Boards die Pfeile der Spieler landen und welche Punktzahl erzielt wurde, ist erst recht nicht zu sehen. Doch das ist dem Großteil der Besucher auch egal, denn sie sind zum Feiern hier und wollen einfach nur an der großen Ally-Pally-Party teilhaben. Für diejenigen, die das Spielgeschehen doch interessiert, sind zwei große Videoleinwände rechts und links neben der Bühne angebracht, die die Zuschauer mit Bildmaterial versorgen. Mit kräftiger Stimme informiert ein sogenannter Caller die Menge mit den einzelnen Scores. Erst unmittelbar vor dem Start der Veranstaltung – 19 Uhr Ortszeit – füllt sich die Main Arena und kurz darauf betritt der Master of Ceremonies, der wenige Minuten später die Spieler begrüßen wird, gefolgt von leicht bekleideten Tänzerinnen die Bühne und sorgt für Stimmung. Keine allzu schwere Aufgabe, denn nur zwei nach oben gerichtete Handbewegungen reichen, um die Masse im Ally Pally toben zu lassen. Die Menschen sind eben zum Feiern dort.

Als der Niederländer Raymond „Barney“ van Barneveld und der Australier Simon „The Wizard“ Whitlock die große Dartbühne in London betreten, bevor sie das erste Viertelfinale des Abends bestreiten, herrscht ein außerordentlicher Lautstärkepegel. Dieser nimmt im Laufe der Begegnung weiter zu, denn über 20 Mal reißen „Barney“ und „The Wizard“ das Publikum mit einem Maximum von den Sitzen und sorgen somit für einen stimmungsvollen Auftakt in den Dartabend. „Unglaublich, wie euphorisch die Fans sind. Schwer zu glauben, dass eine Sportart wie Dart zu einem solch emotionalen Event werden kann. Der Ally-Pally ist der reinste Hexenkessel“, sagt der deutsche Dartfan Martin Barde.
Überlegen entscheidet der Niederländer van Barneveld das Match mit 5:1 für sich. Gespielt wird – zumindest im Viertelfinale der WM – im Modus „First to 5 Sets“. Der Spieler, der zuerst fünf Sätze für sich entscheidet, gewinnt das Spiel. Ein Satz besteht beim Dart aus drei sogenannten Legs, in denen 501 Punkte auf null gespielt werden müssen. Da sich van Barneveld an diesem Abend als der treffsicherere Akteur erweist, darf er sich nach dem Spiel minutenlang von den Fans lautstark mit seinem Schlachtruf „Barney Armey“ feiern lassen. Wenige Augenblicke später marschiert der Spieler mit dem bekanntesten Fangesang im Dartsport auf die Bühne. „There is only one Phil Taylor, walking along, singing a song, walking in a Taylor Wonderland” schmettert die Menge das „Taylor Wonderland“ zur Melodie des Klassikers „Winter Wonderland“, als der beste Spieler aller Zeiten auf der Bühne steht und gut gelaunt in die Menge grinst. „Mitzuerleben, wie der 16malige Weltmeister unter dem tosenden Jubel der euphorisierten Fans die Bühne betritt, ist einfach unvergleichlich“, schildert Barde sein Erlebnis im Alexandra Palace.
Auch nach dem Spiel hat der beliebte Taylor allen Grund zur Freude, denn die Nummer eins der Welt fertigt seinen Landsmann Andy Hamilton mit 5:0 ab. Strahlend und in das Publikum winkend verlässt er die Main Arena, während die Zuschauer zur Partyhymne der Dart-WM – Chase the sun – singen und tanzen.
Nur knapp 20 Stunden später setzt sich die Londoner Dart-Party fort, denn zwei packende Begegnungen warten auf die Zuschauer. Diese kommen an diesem Abend voll auf ihre Kosten, da sich beide Partien über die maximale Länge von neun Sätzen erstrecken. Als James Wade mit dem entscheidenden Matchdart zum 5:4 die ‚Schlacht‘ gegen Wes Newton beendet, ist der Jubel riesig. Nur wenige Augenblicke später leert sich die Main Arena plötzlich, denn ein Großteil der Zuschauer verlässt den Saal entweder schnellen Schrittes in Richtung Toilette oder vom Durst angetrieben zum Getränkestand. Laut Angaben des Veranstalters werden an einem Abend rund 25.000 pints verkauft – so heißen die mit Bier gefüllten Becher in London. Im Schnitt trinkt also jeder Zuschauer zehn pints; das sind ungefähr fünf Liter Bier während der Veranstaltung. Auf einer guten Party darf für viele auch der Alkohol nicht fehlen.

Als die meisten Besucher ihre Plätze wieder eingenommen haben, werfen der Doppelweltmeister Adrian Lewis (England) und der Niederländer Michael van Gerwen schon fleißig Dartpfeile auf die Scheibe. Ganze 26 Mal bringen die beiden die Partygäste durch eine ‚180‘ zum Aufschreien. Sorgen die Spieler mal nicht für Stimmung, so übernehmen die Zuschauer. Oft kommt es vor, dass sich die komplette Tribüne erhebt, auf die Tische zeigt und „boring boring tables“ singt und dazu animieren will, für Stimmung zu sorgen. Die Fans an den Tischen wiederum antworten ebenfalls mit einem Gesang. Als kurze Zeit später alle Zuschauer auf der Tribüne aufstehen und sich mit dem Rücken zu den Tischen drehen und tanzen, interessieren sich die wenigsten im Ally Pally für das Spielgeschehen auf der Bühne. Event statt Sportereignis – der Sport rückt bei der Dart-WM oft in den Hintergrund. „Die gute Stimmung und die Partyatmosphäre dominieren“, betont Stephan Hillen, der ebenfalls aus Deutschland angereist ist.
Nach dem Spiel wird der Sieger van Gerwen frenetisch bejubelt, als er in der Moderatorenkabine, die in der Main Arena platziert ist, zum Interview gastiert. „Oh Michael van Gerwen“ schreien die Zuschauer solange bis dieser in die Menge winkt. Die wenigsten haben den Alexandra Palace kurz nach dem Spiel schon verlassen. Obwohl der Sieg von van Gerwen das Aus des Engländers Adrian Lewis bedeutet, wird der Niederländer in London gefeiert. Eine verrückte Geschichte, findet auch Hillen: „Jede gute Leistung und jede 180 wird von allen Zuschauern bejubelt und gefeiert, unabhängig davon, welcher Spieler wirft. In anderen Sportarten ist so etwas undenkbar.“
Eine halbe Stunde nach Ende des Spiels treten die meisten Fans die Heimreise an. Auch auf dieser lassen es sich die Dartfans nicht nehmen, ihre Feierstimmung kund zu tun. Im Zug wird gesungen und getanzt, die Menschen am Bahnhof wissen gar nicht, wie ihnen geschieht, als die Meute feiernder und verkleideter Menschen an ihnen vorbeizieht – Karneval im Dezember?
Martin Schultheiß
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