Eine neue Saison hat begonnen, doch das Bild bleibt unverändert. Die Farben rot, blau und weiß, die des Königreichs Norwegen dominieren. Die Bemühungen der anderen Nationen scheinen nahezu vergebens. Als die neunte Auflage der diesjährigen Tour de Ski mit dem neun Kilometer langen Schlussstück mit Bergankunft auf die Alpe Cermis zu Ende war, feierte die Grand Dame des nordischen Wintersports, Marit Bjørgen, ihren ersten Triumph bei der Tour de Ski. Auf beeindruckende Art und Weise gewann sie sechs der insgesamt sieben Etappen und feierte mit 1:39,2 Minuten den größten Vorsprung dieses Events seit Bestehen. Auf dem zweiten Platz kam die Vorjahressiegerin Therese Johaug ins Ziel. Die zwei Superstars fallen sich in die Arme und bejubeln ihren Erfolg. Die beiden Norwegerinnen respektieren sich nicht nur, vielmehr verbindet sie eine Freundschaft, unabhängig des sportlichen Erfolgs. Von den restlichen Konkurrenten werden sie hingegen gefürchtet. Für sie bleibt meist nur eine Platzierung hinter den beiden überragenden Läuferinnen. Als dritte überquerte Heidi Weng die Ziellinie. Der Dreifacherfolg der Norweger war perfekt. Erst einige Minuten danach kamen die Geschlagenen völlig erschöpft und ausgepowert an. Unter ihnen die vierfach Gewinnerin Justyna Kowalczyk, die ihre Form noch sucht. Nicht nur bei den Damen, sondern auch bei den Herren kann man zweifelsfrei von einer erdrückenden Dominanz der Norweger sprechen. Der norwegische Titelverteidiger Martin Johnsrud Sundby gewann vor dem enfant terrible des nordischen Skizirkuses Petter Northug, ebenfalls Norwegen. Auf Platz drei landete der Russe Jewgeni Below.
Der deutsche Dichter Friedrich Schiller sprach in seiner Ode „An die Freunde“ von „den Brettern, die die Welt bedeuten“, wenngleich er damit die Bühne im Theater meinte. Und dennoch etablierte sich diese Redewendung gerne bei Skifahrern, die ihre Liebe zu dem Sport verdeutlichen soll. Ein besonderes Verhältnis zum Wintersport wird häufig den Norwegern nachgesagt. So verwundert es kaum, dass der erste bedeutende Wettkampf im Jahr 1892 am Holmenkollen oberhalb von Oslo stattfand. Hermann Weinbuch, der Bundestrainer der Nordischen Kombinierer, gerät bezüglich dem Holmenkollen regelrecht ins Schwärmen. „Die Faszination habe ich schon zu aktiven Zeiten als Athlet erlebt. Der Holmenkollen ist einfach was Spezielles.“ Seit jeher wird dort der Wintersport gelebt und geliebt. Als Indiz der langen Geschichte des Skisports in Norwegen dient Folgendes: So finden sich heute noch Felszeichnungen eines Skifahrers auf der norwegischen Insel Rodøyin, die zwischen 4.000 und 5.000 Jahren alt sein dürften. Zu dieser Zeit wurden die Skier zur Jagd genutzt und halfen dabei, die Nahrung zu sichern. Des Weiteren ist die Sprungschanze am Holmenkollen heute noch die älteste und noch in Nutzung befindliche Schanze der Welt. Selbst die Könige betreiben häufig von klein auf Langlauf. Eine besondere Ehre wird den Siegern der Langlaufrennen vom Holmenkollen zu teil. So werden diese von König Harald V. nach dem Rennen in dessen Loge beglückwünscht. Die Sportler sprechen hier stets von einer entspannten Atmosphäre. Als Therese Johaug am 17. März 2012 das 30 Kilometer Distanzrennen am Holmenkollen gewann, warf sie sich dem König förmlich um den Hals. Wer jedoch denkt, dass dieser perplex reagierte, sieht sich getäuscht. Vielmehr herzte er sie und feierte mit der kleinen Johaug enthusiastisch. Ein Staatsmann und Fan zugleich.
Während in vielen mitteleuropäischen Ländern Fußballer als Stars angehimmelt und vergöttert werden, sind es in Norwegern die Skilangläuferinnen und Skilangläufer wie aktuell Marit Bjørgen, Therese Johaug, Petter Northug oder in der Vergangenheit Bjørn Dæhlie oder Vegard Ulvang, denen die Kinder versuchen nachzueifern. „Der Wintersport ist in Skandinavien unheimlich populär. Nahezu jedes Kind wächst mit Skiern auf und daher ist es nicht verwunderlich, dass viele den Sprung in den Profibereich schaffen“, sagt Georg Zipfel, der ehemalige Bundestrainer und sportliche Leiter der deutschen Langläufer. Es jedoch ausschließlich auf die Anzahl an Sportlern zu schieben, akzeptiert Zipfel nicht. Immer wieder spricht Zipfel von der Mentalität der Norweger, die sich in einer gewissen Ruhe ausdrücke: „Die Skandinavier trainieren häufig stundenlang und das im Gegensatz zu den Deutschen auf nicht perfekt präparierten Loipen. Hierbei entwickeln sie ein ungemein gutes Körpergefühl“, sagt Zipfel und ergänzt: „Beim Deutschen Skiverband wird teilweise mit zu hoher Intensität zu schnell trainiert. Wenn die Norweger hingegen ihre Intensität erhöhen, gehen sie durch die Decke und explodieren förmlich.“
Fast schon wehmütig schaut Zipfel auf die dominante Zeit unter dem ehemaligen Bundestrainer Jochen Behle zurück, als der Gesamtweltcup von 2004 bis 2007 von René Sommerfeldt, Axel Teichmann und zwei Mal von Tobias Angerer gewonnen wurde. „Was die Norweger heute sind, waren wir damals“, erläutert Zipfel. In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Erfolg wieder zu Gunsten der Norweger gewendet. Wenn man sich Therese Johaug und ihre unglaublich hohe Frequenz beim Laufen anschaut, muss man dies neidlos zur Kenntnis nehmen. „Athletinnen wie Bjørgen oder auch Johaug sind einfach die Ausnahme. Norwegen kann sich glücklich schätzen, sie in ihren Reihen zu haben“, analysiert Zipfel. Während Zipfel den deutschen Männern einen extrem harten Winter prognostiziert, sieht er bei den Frauen deutlich bessere Chancen, die Dominanz der Norweger bisweilen zu durchbrechen. „Bei den Männern ist die Leistungsdichte enorm hoch und ganz vorne tummeln sich fünf bis sechs Norweger, ein paar Schweden und sonst noch vereinzelte Nationen. Momentan sehe ich für unsere Sportler ganz wenige Chancen vorne anzugreifen. An einem sehr guten Tag ist es bei den Frauen möglich, vordere Platzierungen zu erzielen. Denise Hermann oder auch Steffi Böhler werden alles daran setzen die Norwegerinnen zu ärgern“, stellt Zipfel fest. Für eine Überraschung sorgte Tim Tscharnke bei der Tour de Ski, als er völlig überraschend die 15 Kilometer im Massenstart im klassischen Stil in Val di Fiemme für sich entschied. Dieser Sieg war für den gesamten deutschen nordischen Skisport von großer Bedeutung. Noch wenige Stunden zuvor hatte die für die Sparten Nordisch und Biathlon zuständige DSV-Sportdirektorin Karin Orgeldinger in Oberhof speziell die deutschen Herren wegen ihrer Leistungen im bisherigen Saisonverlauf scharf kritisiert und Konsequenzen aufgrund fehlender Erfolge nach der Tour angekündigt. Ein Sieg, der der Seele gut tat und auch Georg Zipfel eines Besseren belehrte.
Auf weitere so perfekte Tage kann man im nordischen Langlaufweltcup und bei den im Februar im schwedischen Falun stattfindenden Weltmeisterschaften nur hoffen. Im Langlauf hängt vieles von Faktoren wie Tagesform, Taktik oder auch Material ab und vielleicht reicht es der deutschen Langlaufnationalmannschaft mit taktischer Raffinesse und etwas Glück für eine Medaille, die zweifelsohne ein Erfolg wäre. Dies würde Georg Zipfel sicherlich auch sofort unterschreiben…
Dominik Hermle
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