So hatten sich die großen Männer des Weltfußballs dies nicht vorgestellt. Statt für ausgelassene Freude sorgten sie für Massendemonstrationen. Am 30. Oktober 2007 hatten die Gewaltigen des Fußball-Weltverbandes Fifa in Zürich verkündet, dass die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 im fußball-begeisterten Brasilien, dem größten Land Südamerikas stattfinden solle. Diese Entscheidung sorgt Jahre später für die größten Unruhen in Brasilien, die das Land seit der Militärdiktatur in den 1980er-Jahren hatte. Eine Entscheidung für die Ausrichtung einer Sportveranstaltung, die im ursprünglichen Sinn ein Fest des Friedens und des Zusammenkommens von Menschen aus aller Welt sein sollte. Aus Sicht der Fifa ist die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 ein großzügiges Geschenk. Ein Geschenk, das der Großteil der Bevölkerung aber gar nicht haben will. Die SportSirene rekapituliert die Ereignisse.
17. Juni 2013: Der bis dahin größte Protest gegen die FIFA-Weltmeisterschaft, an dem sich mehrere Hunderttausend Menschen beteiligen.
Die Gegner der WM erregen zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der Medien in der ganzen Welt. Obwohl sich Brasilien seit Jahren im wirtschaftlichen Aufschwung befindet, krankt das Land in verschiedenen Bereichen. Initiiert wird der Protest von einer Bewegung namens „Passe Livre“ (dt.: Freifahrtschein). Ricardo Uvinha, Professor an der Universität von São Paolo, erklärt, wie die Proteste entstanden. „Ursprünglich richtete sich die Bewegung gegen die Erhöhung der Bus- und Zugpreise. Bald wurden die Proteste um weitere Themen erweitert, wie die Korruption in der Politik und die großen öffentlichen Ausgaben für die Weltmeisterschaft, besonders die der Stadien“, sagt er. Auch das schlechte Bildungssystem und die hohe Kriminalitätsrate werden zum Ziel der Protestierenden. Die Wut richtet sich gegen die Regierung Roussefs, die das Geld nicht in die Verbesserung innenpolitisch wichtiger Bereiche investiert, sondern in prestigeträchtige Veranstaltungen. Neben der WM mit umgerechnet 11,5 Milliarden Euro will die Regierung auch noch die Olympischen Spiele 2016 mit 28 Milliarden Euro ausrichten. „Meine WM besteht aus Gesundheit und Erziehung“, schreibt ein Demonstrant auf sein Schild am 17. Juni 2013.
Brasilianische Fußballspieler, wie Neymar und Dante, solidarisieren sich öffentlich mit den Demonstranten.
Brasilien gilt als eine der größten Fußballnationen der Welt. Diesen Ansprüchen wurde die Selecao seit dem letzten Titelgewinn 2002 nicht mehr gerecht. 2014 hat Brasilien nun endlich wieder eine Mannschaft, der der Titelgewinn zugetraut wird. So groß wie die Verärgerung über die Missstände auch ist – die Euphorie um Neymar und Co. ist größer. Nachdem einige Spieler wie auch Trainer Scolari sich auf die Seite der Demonstranten stellen, und die Demonstrationen öffentlich unterstützen, avancieren sie regelrecht zu Heiligen.
19. Juni 2013: FIFA-Präsident Sepp Blatter kann die Massendemonstration nicht verstehen.
„Brasilien hat sich um die WM beworben. Wir haben die WM nicht Brasilien aufgezwungen“, äußert sich der damalige Fifa-Präsident Joseph Blatter in einem Exklusiv-Interview mit dem brasilianischen TV-Sender Globo. Auch FIFA-Generalsekretär und Statthalter Blatters in Brasilien, Jérôme Valcke, gibt in diesen Tagen ungeschickte Äußerungen von sich. Die FIFA sei nicht verantwortlich für das, was passiert, sagt Valcke. Bereits im April hatte er die Gemüter des brasilianischen Volkes erregt, als er meinte: „Um eine WM zu organisieren, ist weniger Demokratie manchmal besser.“ Über diese erhebt sich die FIFA ohnehin in jeglichen Bereichen während der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien. Sie genießt uneingeschränkt Steuerfreiheit und das seit Jahren wirkende Alkoholverbot in Brasilien wird ausgehebelt, sodass der FIFA-Sponsor Ambev Bier ausschenken darf. Hinzu kommen Schuldenerlasse für Kommunen und Proficlubs, um die WM-Stätten aufzubauen, und Zwangsräumungen wegen Stadien, die in Städten wie Brasilia, Manaus, Natal oder Cuiaba wohl nie mehr ansatzweise gefüllt werden können. Gegenwehr aus der Politik hat die FIFA dabei nicht, denn ein Drittel der Parlamentarier und Senatoren ist mit der Fußballbranche verlinkt. Dem Lobbyismus ist damit Tür und Tor geöffnet.
20. Juni 2013: Die Juni-Proteste finden ihren Höhepunkt. Fast zwei Millionen Menschen gehen in 438 Städten in Brasilien auf die Straße.
Zum großen Teil sind die Proteste friedlich. Doch als die Polizei Tränengas-Granaten auf die Protestzüge abfeuert, eskaliert die Situation. In der Nacht kommt es vermehrt zu Straßenschlachten mit bürgerkriegsähnlichem Ausmaß. In Rio de Janeiro werden 44 Menschen verletzt, in Brasilia sogar 100. Randalierer setzen Autos in Brand, reißen Zäune um und stecken Plastikplanen in Brand. Die Unzufriedenheit der Menschen kann nun nicht mehr von der Regierung ignoriert werden.
21. Juni 2013: Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff reagiert auf die Proteste.
In einer landesweit übertragenen Fernsehansprache verurteilt Rousseff die gewalttätigen Ausschreitungen einer Minderheit und lobt die friedlichen Proteste. Außerdem kündigt sie einen großen Pakt für ein besseres Brasilien an, der drei Kernelemente enthält: Die Verbesserung des öffentlichen Transports, die vollständige Verwendung der nationalen Öllizenzgebühren für Bildung und die Anwerbung tausender ausländischer Ärzte für ein besseres Gesundheitssystem.
30. Juni 2013: Die Seleção gewinnt den Konföderationen-Pokal souverän.
Mit einem 3:0 setzt sich die brasilianische Nationalmannschaft im Finale des Konföderationen-Pokals gegen Weltmeister Spanien durch, und unterstreicht somit deutlich, dass bei der Weltmeisterschaft in einem Jahr mit ihr zu rechnen ist. Die Mannschaft gewinnt damit an Beliebtheit. Dilma Rousseff hingegen verzeichnet während der zwei Turnierwochen laut Umfragen einen Absturz von 27 Prozentpunkten in der Volksgunst. Nachdem sie im Eröffnungsspiel ausgebuht wurde, sagt sie die Teilnahme am Finale ab. Nach der großen Protestwelle im Juni wird es ruhiger in Brasilien. Zwar gibt es weiterhin vereinzelte Proteste, doch erst im Mai 2014, vier Wochen vor der WM, kommt es wieder zu Massenprotesten. Die brasilianische Bevölkerung lässt ihrem ganzen Frust noch einmal Luft.
Mai 2014: Die letzten großen Proteste vor der Weltmeisterschaft finden statt.
Ein Monat vor Beginn des großen Sportereignisses, am sogenannten Tag des Kampfes gegen die WM, gehen die Protestierenden noch einmal auf die Straße. Besonders in São Paolo kommt es zu teilweise gewalttätigen Ausschreitungen. Es ist ein letztes Aufbäumen, denn als die WM beginnt, bekommt niemand mehr so richtig etwas von den Demonstrationen mit. „Es war klar, dass die WM, sobald sie anfinge, die brasilianische Bevölkerung in ihren Bann ziehen würde“, meint Ricardo Uvinha. Die Brasilianer freuen sich auf den Monat des Fußballs, und nur wenige wollen sich jetzt noch die Laune verderben lassen. Die Fanfeste sind bestens besucht. Die kleinen Demonstrationen, die immer noch stattfinden, gehen daneben unter. Viele derjenigen, die heute nicht mehr auf die Straße gehen, tun dies auch aus Angst vor der Polizei, die viele Proteste brutal niederschlägt.
Dilma Roussef gewinnt Wahl
Am 26. Oktober 2014 tritt Dilma Rousseff zur Präsidentschaftswahl gegen ihren Herausforderer Aécio Neves an, und gewinnt knapp mit 51,6 Prozent der Stimmen im Stichentscheid. Trotz der großen Gegenwehr in der Bevölkerung darf Rousseff weitere vier Jahre regieren. „Aufgrund der Stimmen, die sie im strukturschwachen und armen Nordosten Brasiliens holte, konnte Rousseff an der Macht bleiben. Dies hat sie ihrer Sozialhilfe-Reform zu verdanken“, erklärt Uvinha, fügt aber an: „Ihre aktuelle Situation ist schwierig. Sie und ihre Partei scheinen in den Bestechungsskandal des brasilianischen Mineralölunternehmen Petrobas verwickelt zu sein.“ Das Beispiel der Machterhaltung Rousseffs zeigt: Auch nach den Protesten, die zweifelsohne bereits in die Geschichtsbücher eingegangen sind, hat sich Brasilien in vielen Bereichen nicht gewandelt. Vom Petrobas-Skandal, der tagtäglichen Kriminalität in den Favelas oder dem Lehrerstreik Ende April, der von der Polizei mit Knüppeln niedergeschlagen wurde, erfährt man außerhalb Brasiliens in der Presse aber nur noch, wenn man gezielt danach sucht. Nichtsdestotrotz sind die Missstände nach wie vor allgegenwärtig.
Aktivisten nutzen gerne die Gelegenheit der öffentlichen Aufmerksamkeit, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Gerade große Sportereignisse eignen sich dafür besonders gut. Leider wird das sensationsgierige Auge der Medien nur in diesen kurzen Zeiten auf ein Land gelenkt. Wenige Wochen später wendet es sich bereits der nächsten Sensation zu. So war es vor der Fußball-WM in Brasilien. So war es vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014. Und so wird es wieder in Brasilien sein, bevor im nächsten Jahr das olympische Feuer entzündet wird.
Es bleibt zu hoffen, dass die Bevölkerung den kurzen Moment der Aufmerksamkeit nutzt und sich noch einmal Gehör verschafft. Denn der Aufstand ist die Sprache der Ungehörten. Das sagte einst Martin Luther King, worauf sich die zuvor Ungehörten erhoben, und jahrelange hässliche Muster und stetige Ungerechtigkeiten in den USA beendeten.
Benjamin Frenzel
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