Viele kennen den Bobsport aus dem Fernsehen. Wagemutige fahren in einem Schlitten, der von seiner Form her an ein übergroßes Projektil einer Schusswaffe erinnert, ein paar Kurven hinab ins Tal. Die Geschwindigkeit des Bobs – bei den Männern gibt es den Zweier und Vierer, bei den Frauen nur den Zweier – und die Präzisionsarbeit des Piloten werden bei den Übertragungen kaum vermittelt. Nur die wenigsten haben je eine rasante Abfahrt live vor Ort erlebt. Daher nimmt Sie die Sportsirene mit auf einen Ritt durch den Eiskanal.
Ich stehe in der Schlangengrube der Bobbahn am Königssee. „Kurve Acht“ steht harmlos über dem lang gezogenen, drei Meter hohen Bogen. Die Innenseite ist mit gefrorenem Wasser überzogen, die weißen Spuren auf dem gräulichen Eis verraten die Ideallinie. Eine irre Vorstellung, dass ein maximal 630 Kilogramm schwerer Bob so weit in der Schräge über den Köpfen der Zuschauer entlang rast. In wenigen Sekunden startet der zweite Durchgang des Viererbob-Wettbewerbs am Königssee.
Es ist mein erstes Mal live vor Ort. Die 120 Stundenkilometer der Schlitten wirken viel schneller als im Fernsehen, übertreffen die Erwartungen, überraschen mit ihrer Intensität. Die einwirkenden Kräfte sind selbst knapp neben der Bahn noch spürbar, die Vibrationen des Schlittens übertragen sich auf die Füße des Betrachters. Ein Zischen des die Luft schneidenden Bobs macht die Rasanz hörbar. In diesem Moment kommen Zweifel. Ist die Abfahrt in einem Bob vielleicht doch zu viel der Zumutung? Der zweite Schlitten nimmt die Kurve in einem noch höheren Bogen, die Knie werden weich. Bevor die Abfahrt mit Kräften bis zum fünffachen der Erdbeschleunigung beginnt, steht die Inspektion der Strecke an. In regelmäßigen Abständen rasen Bobs vorbei. Sie kippen bei den schnell aufeinander folgenden scharfen Kurven hin und her. Das sieht ruppig aus, doch die ruhige Lage des Schlittens vermittelt den Eindruck, dass der Pilot sein Gefährt unter Kontrolle hat. Besonders erstaunlich ist, wie gleichmäßig die Schlitten beim Turbodrom, einem Kreisel von 360 Grad, in der Bahn liegen. Dennoch wird klar, warum die Bobpiloten ihre Sportart als „Formel 1 des Winters“ bezeichnen. Oben am Start geht es gemächlich zu, die Schlitten sind recht langsam, und interessanter ist das gegenseitige Anfeuern der Besatzungen. Noch beeindruckender ist die Technik, wie sie sich in einer fein aufeinander abgestimmten Choreografie flink auf engstem Raum positionieren. Zum Glück sitzen die Gastfahrer von Beginn an und müssen nicht über das Eis rennen oder in den Schlitten hüpfen. Im Zielbereich lässt der aufstäubende Schnee beim Bremsen erahnen, welche Energie bei einer Bobfahrt aufgebaut wird.
Nach der letzten Weltcupfahrt geht es ganz schnell, die Spannung steigt. Kurz nach der Siegerehrung halte ich mein Ticket für das Rennbob-Taxi in der Hand. Während es zu Fuß wieder hinaus zum Start geht, mischen sich bei mir Vorfreude und Angst vor dem Unbekannten. Im Startbereich macht sich Verwunderung breit, weil auch so viele andere die Fahrt durch den Eiskanal wagen. Wenn die heil unten ankommen, dann schaffe ich das auch. Beim Warten werden die Gefühle klar: Nervosität – ja. Eine Bobfahrt ist schließlich etwas Unbekanntes. Aber die Angst, dass etwas passieren könnte, bleibt aus. Und das obwohl ein kanadischer Viererbob jüngst einen schweren Unfall beim Weltcup in Altenberg hatte. Plötzlich wird es betriebsam, alles geht ganz schnell. Der Pilot überreicht den Helm, erklärt beim Aufsetzen dessen das Verhalten während der Fahrt: Aufrecht sitzen, den Rücken in die kleine Rückenstütze drücken. In den Kurven leicht mit dem Kopf mitgehen. Bei einem Unfall Spannung aufbauen und so lange im Bob bleiben, bis das Kommando zum Aussteigen kommt. Das war’s. Der Crash-Kurs fürs Bobfahren. Ich zwänge mich in den Schlitten. Gar nicht so einfach, sich direkt auf den Boden zu setzen. Erstaunlich, wie schnell die Profis in den Schlitten gleiten und die aerodynamisch günstige Position einnehmen. Ein stämmiger Mann quetscht sich zwischen den Piloten und mich. Die Beine sind nun nicht mehr sichtbar, die Hände umklammern die vorgesehenen Henkel an der Innenseite der Karosserie. Eingepfercht in einem überdimensionalen Schusswaffenprojektil eine Eisrinne hinunter rasen – Freiheit ist sicherlich etwas Anderes.
Gemächlich gleitet der Bob an, nun gibt es kein Halten mehr. Die Kontrolle ist komplett abgegeben. Den Mitfahrern bleibt nichts weiter übrig, als dem Piloten und seiner Fahrkunst zu vertrauen. Sie sind von diesem voll und ganz abhängig. Die Beschleunigung ist bei neun Prozent Durchschnittsgefälle deutlich zu spüren. Gespannte Stimmung vor der ersten Kurve. Der Körper wird kurz gegen die seitliche Wand des Bobs gedrückt und dann sofort auf die andere Seite geschleudert. In den scharfen Kurven überträgt sich die rasante Geschwindigkeit auf den eigenen Leib. Erst links, dann rechts und das Gleiche von vorne. Das war die Schlangengrube. Problemlos gemeistert. Der Eindruck gleicht der in einer Achterbahn – ohne den Anschnallgurt, der im Freizeitpark die nötige Sicherheit gibt. Dennoch kommt jetzt der Spaß auf. Nach den vier 90-Grad-Kurven folgt eine lange Gerade. Zeit zum Erholen – aber nur kurz. Plötzlich boxt der Bob mit großer Wucht gegen die seitliche Bahnbegrenzung. Der harte Aufprall schockt. Wieder ein lauter Schlag, wieder die Bahnbegrenzung. Der Schlitten steht kurz quer. Was, wenn wir so die Einfahrt in Kurve zehn verpassen? Wir werden kippen! Die Anweisungen im Falle eines Unfalls schießen durch den Kopf, der Körper verkrampft, die Arme krallen sich an den Haltegriffen fest. Das ist jetzt doch Angst.
Die Jennerkurve liegt hinter uns, ohne Kippen. Erleichterung macht sich breit. Der Pilot hat alles unter Kontrolle. Nun folgt die Einfahrt in den Kreisel. Bei drei G gleitet der Schlitten 360 Grad in der Schräglage über den Boden hinweg. Die Angst schwindet, der Spaß kehrt zurück, wieder wie in einer Achterbahn. Die Sicherheit ist in der Eisrinne aber nicht von einem Haltebügel abhängig, sondern vom Können des Piloten und Vertrauen zu ihm. Dank dieses Vertrauens steigt der Spaßfaktor beim heftigen Hin- und Her-Kippen des Bobs in den zwei folgenden 90-Grad-Kurven. Die Fahrt durch die lang gezogene Echowand ist sogar ein Genuss. Ich koste es aus, die G-Kräfte am eigenen Körper zu spüren. Nur noch zwei Kurven, dann ist die Fahrt durch den 1270 Meter langen Eiskanal vorbei. Schade. Kurz darauf kratzt und scharrt es unter dem Gesäß, der Bob bremst. Die Visiere gehen auf, der Fahrtwind weht ins Gesicht. Erst einmal frische Luft.
Beim Aussteigen kommt Freude auf: befreit aus der Enge, mit den Beinen auf festem Boden, selbst für die Schritte verantwortlich. Die Kontrolle ist zurück, das ist befreiend. Das erste Urteil fällt positiv aus und jegliche Angst war unbegründet. Da wurden schon verrücktere Achterbahnen mit mehr Kick überstanden. Dennoch breitet sich Genugtuung aus, als anschließend das „Bob-Diplom“ und eine Medaille überreicht werden. Der stämmige Mann sagt bei der Übergabe zu unserem Piloten, dass er noch immer zittrige Beine habe. Mir geht es anders. Ich glaube, die Fahrt souverän überstanden zu haben. Auch wenn es nicht ganz klar ist, ob ich das Erlebnis schon richtig verarbeitet habe. Jedenfalls ist das Gefühl der Freiheit nach einer Bobfahrt bewusster. Aber erst nachdem einem der Verlust der Kontrolle klar geworden ist.
Marco Hoffmann
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