Früher war es das Haus der Polizei. Im Hinterhof war der Aufgang zu einem Hotel. Heute ist es stark heruntergekommen. Kein Hotel und keine Polizei mehr da. Die Fassade bröckelt ab. Nebenan werden Gebrauchtwagen verkauft. Die Fenster sind teils komplett verschanzt. Im 3. Stock brennt noch Licht. Am Briefkasten hängt ein Blatt Papier in einer Klarsichtfolie: „Leipheimerstraße 48 – Hier wohnen: …“. In zwei Spalten sind insgesamt 48 Namen aufgelistet. Viele sind erst beim dritten Hinsehen lesbar. Es ist ein Heim für Asylbewerber. Die meisten kommen aus Syrien, Afghanistan oder Pakistan. Unter ihnen ist auch ein Senegalese, Cissé Ousmane.
Seit Herbst 2012 kommt Cissé Ousmane regelmäßig ins Training des ortsansässigen Fußballvereins TSV Pfuhl. Einfach so. Auf einmal war er da. Keiner wusste woher. Er konnte nicht wirklich Deutsch, kein richtiges Englisch, wenig Französisch, am ehesten noch Spanisch: „Hallo! Wie geht es dir? Ca va bien. No se. Bye!“ Die Verständigung war und ist immer noch schwierig. Aber er hat Kickschuhe und hat sich getraut an den Sportplatz zu kommen, in einem fremden Land, einer komplett anderen Kultur und zu völlig fremden Menschen, die er nicht versteht. So kam der für ihn erste Kontakt abseits des Asylheims zustande. Wenige Monate später, am 17. Februar 2013, stand Cissé zum ersten Mal mit offizieller Spielerlaubnis für den TSV Pfuhl auf dem Platz. Völkerverständigung durch den Fußball. Cissé ist ein Mannschaftskamerad von mir. Ich habe ihn besucht, um über seine Herkunft, seinen Weg nach Deutschland und sein zukünftiges Leben zu sprechen. Ich war zu Gast in seinem Zuhause, im Asylheim, im alten, heruntergekommenen Polizeigebäude.
Am Treppenaufgang liegt ziemlich viel Bauschutt auf den kalten, verdreckten Fliesen. Das Geländer ist brüchig, es fehlen Stangen. Nirgendwo steht, in welchem Stockwerk wer wohnt. Vorsichtig und unsicher gehe ich die Treppen hinauf. Es sind fremde Stimmen zu hören, ausländische Stimmen. Ein wenig hallen sie im leeren Treppenhaus nach. Dann kommt mir ein dunkelhäutiger Mann entgegen: „Can you speak German?“ Er schaut mich seltsam an. Ich versuche es anders: „Tu connais Cissé, Cissé Ousmane?“ Er schaut etwas misstrauisch. „Cissé, oui.“ Er dreht sich um, winkt mit dem Arm und läuft ohne weitere Worte die Stufen hoch. 2. Stock. Eine Tür steht offen. Zwei Männer leicht dunklerer Hautfarbe stehen an einer Art Herd und reden. 3. Stock. Wir gehen durch eine Brandschutztür in einen Flur, der nicht mehr mit Fliesen, sondern mit Holz ausgelegt ist. Am Rahmen der Holztüren stehen jeweils zwei bis drei Namen: „Cissé Ousmane“. Der Fremde mit kurzem Irokesenhaarschnitt und einer stark verbrauchten Lederjacke klopft an der Zimmertür und geht hinein: „Cissé!?“ Drei weitere, dunkelhäutige Fremde und Cissé sitzen auf zwei Betten verteilt in einem Raum mit ungefähr 15 Quadratmetern. Rechts von der Eingangstür geht es ins Bad, davor stehen ein blauer Spint mit einem Sack Kartoffeln darauf und daneben ein kleiner Kühlschrank, auf dem ein großer Kanister steht, der aber nur zur Hälfte noch mit Wasser gefüllt ist. Ein Fernseher läuft. Kleidungsstücke sind im Zimmer verteilt. Keine Poster, keine Deko. Alles ist sehr spartanisch. Cissé erkennt mich und begrüßt mich: „Hey! Wie geht?“ Er lacht, wir umarmen uns und er bietet mir sofort einen Stuhl an. Mit Händen und Füßen versuche ich ihm verstehen zu geben, was ich von ihm möchte. Es klappt nur schwer. Wir verabreden uns zu einem späteren Zeitpunkt. Es gibt gleich Mittagessen.
Als ich zwei Stunden später wieder komme, sitzen Cissé und seine Stockwerksbewohner mit einer Gabel in der Hand in der Küche um einen Tisch, auf dem eine große Platte mit einem Berg voll Reis und Gemüse steht. Die anderen beginnen mit dem Essen, Cissé bringt mich erst auf sein Zimmer. Es läuft ein französischer Cartoon im Fernsehen. Nach kurzer Zeit kommt Cissé mit drei weiteren Asylbewerbern in sein Apartment. Und wieder das Sprachenproblem. Meine Brocken Französisch aus der Schule reichen nicht aus und Englisch versteht Cissé noch weniger. Wir bekommen Hilfe. Zwei Türen weiter wohnt ein Asylbewerber aus dem Kongo, Michael Bongonet. Michael arbeitet ehrenamtlich bei der Diakonie Neu-Ulm in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung und hat seit wenigen Wochen Deutschunterricht an der Neu-Ulmer Volkshochschule. Er kann deshalb schon gut Deutsch, sehr gut Französisch und dient uns als Übersetzer. Doch auch das klappt nicht immer. Cissé spricht am liebsten Spanisch. Der Mann mit dem Irokesenschnitt und der Lederjacke von vorhin kommt ebenfalls aus dem Senegal und überbrückt die Sprachbarriere vom Französischen ins Spanische. Ein amüsantes Durcheinander!
Laut dem Sozialversicherungsausweis, den Cissé Ousmane bei der Antragsstellung auf Asyl in Deutschland erhalten hat, ist er am 1. Januar 1980 im Senegal geboren. Bis auf das Jahr ist sich keiner sicher, ob das stimmt. Als sein Vater starb, war er sieben Jahre alt. Fortan war er allein für die Ernährung seiner Mutter und seiner beiden Geschwister verantwortlich. Vor seiner Flucht nach Europa, arbeitete Cissé in seiner Heimat als Mechaniker in einer Autowerkstatt. Ein weiterer Asylbewerber aus dem Senegal wirft ein: „In Senegal Arbeit den ganzen Tag, 15 Euro. Essen für Familie, Geld weg. Nur Arbeit, Arbeit, Arbeit für Essen Familie. Sonst nichts.“ Das hat auch Cissé verstanden und nickt mit trauriger Miene. Er hoffte auf Arbeit und Lohn in Europa, den er dann an seine Familie zuhause schicken kann. Doch das klappt nicht so wirklich. Er darf nicht arbeiten, aber er will.
Die Überfahrt nach Europa plante er über viele Jahre hinweg. In einem kleinen Boot, wie man es aus der beinahe täglichen Fernsehberichterstattung kennt, schipperte er drei Tage lang mit ungefähr 25 weiteren Flüchtlingen vom Senegal über den Atlantik. Es gab zu Essen und zu Trinken. Geschlafen habe er nicht. „Schwer und lang! Will nicht darüber sprechen“, übersetzt mir Michael Bongonet die spanischen Worte von Cissé. Es ist zu spüren, dass ihm das Thema unangenehm ist. Sein Blick geht immer in Richtung Boden. Der Platz im Flüchtlingsschiff habe ihn umgerechnet circa 1500 Euro gekostet. Dafür habe er jeden Tag wenige Euro von seinem Gehalt weggenommen und diese sogar vor seiner Familie versteckt. Sein ganzes Vermögen für eine Reise ins Ungewisse.
Seine erste Station war Santander in Spanien. Dort habe er ohne offizielle Genehmigung bei einem Privatmann im Garten gearbeitet. Vom Staat bekam er wenig bis nichts. Hier in Deutschland hat er 267 Euro monatlich für Essen und Trinken zur Verfügung. Seinen Wohnplatz bekommt er vom Landratsamt bezahlt. „Die Menschen in Deutschland sind netter als in Spanien. Kein Rassismus“, so Cissés übersetzte Worte mit einem Lächeln im Gesicht. Nach drei Jahren in Spanien ohne legale Arbeit kam er mit dem Bus nach München, wo er am 12. Juli 2012 seinen Antrag auf Asyl stellte und in den Landkreis Neu-Ulm nach Pfuhl ins alte Polizeigebäude einquartiert wurde. „Der Antrag auf Asyl im Falle von Cissé Ousmane läuft derzeit noch. Sein Aufenthalt wird somit gestattet bis das Verfahren abgeschlossen ist“, bestätigt Jochen Grotz, Fachbereichsleiter Migration und Flüchtlinge im Landratsamt Neu-Ulm. Regelmäßig wird Cissé zu Gesprächen ins Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eingeladen, wo er einem sogenannten „Entscheider“ erklären muss, wie und warum er nach Deutschland gekommen ist. „Nachdem der Antragsteller den Sachverhalt dargelegt hat, stellt der Entscheider seine Nachfragen zum vorgetragenen Sachverhalt, um weitere Erkenntnisse zu erhalten und auch um Widersprüche und Ungereimtheiten aufzuklären“, so Christoph Sander vom BAMF. Nur wenn vorgeschriebene Flüchtlingseigenschaften wie die politische Verfolgung von Minderheiten oder ähnliches im Heimatland gegeben sind, wird dem Antrag stattgegeben und der Flüchtling darf in Deutschland bleiben. Naturkatastrophen oder finanzielle Ausweglosigkeit gelten beispielsweise nicht als triftiger Grund für ein Bleiberecht. „Ausschlaggebend ist dabei immer das Einzelschicksal. Gefällt wird die Entscheidung auf Grund einer Gesamtschau, die alle relevanten Erkenntnisse berücksichtigt“, heißt es auf der Internetseite des BAMF. Wie das Verfahren um Cissé Ousmane enden wird, steht noch offen. Hierzu konnten auch keine Informationen oder Angaben von Seiten des BAMF herausgegeben werden.
Ein großer Wunsch von Cissé ist der Erhalt der Arbeitserlaubnis. Er zählt schon die Tage bis es endlich soweit ist. Erst nach einem Jahr Aufenthalt in Deutschland wird diese Erlaubnis erteilt, sprich ab dem 12. Juli 2013 kann sich Cissé über offene Arbeitsstellen beim Bundesamt für Arbeit informieren. Doch zu einem Arbeitsplatz ist es noch ein weiter Weg, so Jochen Grotz vom Landratsamt Neu-Ulm: „Zuerst muss eine Arbeit gefunden werden, dann geht es zur Ausländerbehörde, dann ans Arbeitsamt. Wenn es überhaupt keinen anderen Bewerber gibt, geben die das Ok und der Weg geht über dieselben Stellen zurück.“ Bedeutende Kriterien auf dem Arbeitsmarkt sind soziale Kontakte wie beispielsweise die Mitgliedschaft in einem Fußballverein und die Kenntnis der deutschen Sprache. Cissé ist sich dessen bewusst und nimmt deshalb an den freiwilligen Deutschkursen der Diakonie Neu-Ulm teil. „Basisdeutsch braucht jeder: zum Einkaufen, beim Arzt oder beim Anwalt“, sagt Sigrun Grüninger, Organisatorin der Deutschkurse bei der Diakonie. Die Nachfrage solcher Kurse sei immens hoch und es gäbe laut Grüninger eine lange Warteliste. Zwölf bis 15 Personen werden zweimal pro Woche unterrichtet. Die Kurse sind kostenfrei und werden nur durch Spenden finanziert. Jedoch werde vor Beginn der viermonatigen Unterrichtsdauer eine Kaution von 20 Euro von den Kursteilnehmern verlangt, die bei einer 70-prozentigen Anwesenheit wieder ausgezahlt werde. „Was nichts kostet, ist nichts wert“, so die 49-jährige Diplom-Sozialpädagogin. Sigrun Grüninger ist seit 14 Jahren bei der Diakonie und hocherfreut über das soziale Engagement vieler Asylbewerber. Sie kennt die Schwierigkeit der Menschen, dem Alltag eine Struktur zu verschaffen: „Viele Schüler fragen nach dem Sportangebot in der Region. Sport ist gut, das dient der Integration. Nur essen und schlafen ist langweilig.“
Cissé ist gerade dabei, sich über den Fußball in die Gemeinschaft zu integrieren und seinem Alltag eine gewisse Ordnung zu geben und somit regelmäßige Termine zu haben. Mit seinem Mut, seiner freundlichen Art und seinem Vertrauen in fremde Menschen hat er es geschafft, neue Bekanntschaften und auch neue Freunde in einem fremden Land zu gewinnen: „Cissé zu Gast bei Freunden“. „Er hat es gewiss nicht einfach. Alles für etwas Unbekanntes aufs Spiel zu setzen. Aber mit seiner offenen Art meistert er das gut. Wir nehmen ihn in unsere Gemeinschaft auf“, lobt ihn Werner Stutzmann, sein Trainer beim TSV Pfuhl. Seine Zukunft ist offen. Planen kann er nicht. Er kann nur das Beste daraus machen.
Michael Kroha
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